“Also die ganz ‘schwerstmehrfach-behinderten Kinder’ können nicht in den Gemeinsamen Unterricht. Das geht ja gar nicht”

Für Jelte und Steffi und ihre Klassenkammeraden war es eine schöne Schulzeit, sie haben alle viel gelernt. Jelte kann blind Rollstuhlfahren und selber trinken. Im Unterricht war Steffi fast immer dabei, auf Augenhöhe, auf einer Liege, hat sich über die Mitschülerinnen/Mitschüler gefreut. Inklusionsforscherin Jutta Schöler hat mehrfach wissenschaftlich belegt, dass gerade Kinder, die eine “schwere mehrfache Behinderung” haben vom Gemeinsamen Unterricht profitieren, ebenso ihre Mitschülerinnen/Mitschüler:

“Je schwerer die Behinderung ist, um so notwendiger
braucht ein Kind die vielfältigen Anregungen der nichtbehinderten Kinder:
deren Bewegungen es mit den Augen verfolgen kann,
deren Geräusche es mit den Ohren wahrnimmt,
deren Gerüche es mit der Nase unterscheiden kann,
deren Hände es am eigenen Körper spürt”.

Prof. Jutta Schöler

Schöler Zitat ©Inklusionsfakten

Eine so genannte “schwere Mehrfachbehinderung” bzw. “Schwerstmehrfachbehinderung” (es gibt noch weitere Begriff, fast alle mir dem Superlativ “schwer”) meint, dass unterschiedliche Behinderungen zusammen kommen (bspw. Blindheit, kognitive Einschränkungen und Gehbehinderung). Um die Defizitorientierung zu vermeiden, brachten Renate Hetzner und Wolfgang Podlesch 1994 den Begriff “Kindern mit elementaren Lernbedürfnissen” hervor.

Unabhängig von Begrifflichkeiten, fragt Inklusion nicht nach dem Grad der Behinderung. Wer Inklusion an der Schwere der Behinderung fest macht, hat nicht verstanden, um was es geht. Förderschulen dürfen keine Restschulen für diejenigen sein, die wahrscheinlich am meisten auf gleichberechtigte Teilhabe angewiesen sind. Denn das wäre noch nicht mal Second-Hand-Integration, das wäre Zwei-Klassen-Politik. Auch für Schülerinnen/Schüler mit Lernschwierigkeiten/so genannter “geistiger Behinderung” und Schülerinnen/Schüler mit so genannter schwerer Mehrfachbehinderung gilt der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung:

“Für Schüler_innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ist demnach der in der UN-Konvention für Menschen mit Behinderung formulierte Anspruch auf inklusive Bildung bislang kaum umgesetzt, wohingegen Kinder und Jugendliche, die mit einem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt in den Bereichen Sprache oder sozial-emotionale Entwicklung etikettiert worden sind, deutlich häufiger allgemeine Schulen besuchen. Dieser, durch die statistischen Zahlen eindeutig belegte, Zustand scheint auch strukturell intendiert. So lässt sich in den bildungspolitischen Debatten um schulische Inklusion eine klare Fokussierung auf die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Verhalten identifizieren – bei deutlicher Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung und schwersten Behinderungen. Dies hat eine doppelte Diskriminierung dieser Schüler_innengruppen zur Folge” (S.46, Expertise “Diskriminierung im vorschulischen und schulischen Bereich” der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2013).

Kinder mit so genannter schwerer Mehrfachbehinderung profitieren ganz besonders vom Gemeinsamen Unterricht, anders als wenn Kinder mit schweren Behinderungen unter sich sind. Berührungen und die Kontaktaufnahme geht im Gemeinsamen Unterricht auch viel von nichtbehinderten Kinder aus. Diese Behrühungen sind nicht pädagogisch intendiert durch Erwachsene. Die Mitschüler/-innen ohne Behinderungen bieten dem Kind mit “schwerer Mehrfachbehinderung” viele verschiedene Reize, zum Beispiel ein lebhaftes Umfeld, ein Über-den-Kopf-Streicheln, Berühungen und direkte Ansprache.

Mit genügend Ressourcen und guten Ideen gelingt inklusive Bildung für Kinder mit “schwerer Mehrfachbehinderung” bzw. mit elementaren Lernbedürfnissen (siehe auch unten: weiterführende Links). Dass alle Kinder davon profitieren und wie das Sozialverhalten und die Empathiefähigkeit in der Klasse gefördert werden, zeigen diverse Schulversuche und Erfahrungsberichte. Das Beispiel von Sertan an der Heinrich-Zille-Grundschule in Berlin zeigt, wie sehr der Gemeinsame Unterricht Sertans Entwicklung förderte. Erfahrungsberichten zeigen: Erik hatte eine ebenso positive Wirkung auf seine Mitschüler/innen wie sie auf ihn (siehe Beispiel Erik im Gemeinsamen Unterricht, mittendrin e.V.). Der Film Klassenleben zeigt, wie Lena und ihre Mitschülerinnen/Mitschüler gemeinsam lernten und aufwuchsen. Und auch Beschreibungen des Gemeiansem Unterrichts mit Kindern mit so genannter “schwerer Mehrfachbehinderung” machen deutlich, wie es funktioniert – zum Beispiel in dem Buch zur inklusiven Bildung und “schwere Mehrfachbehinderung”: Andreas Hinz (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspektiven.

Zu sagen, dass Inklusion nur für bestimmte Behinderungen gelten und Kinder mit “schwerer Mehrfachbehinderung” auf die Förderschulen gehören, ignoriert die vielen guten Erfahrungen, die Menschenrechtsperspektive und den Kern der Inklusionsidee:

“Und der Begriff der Inklusion verträgt keine Ausgrenzung, weder in seiner lateinischen Herkunft, noch im soziologischen Sprachgebrauch, noch im pädagogischen” (Georg Feuser 2014).

Bis heute werden Kindern und Jugendlichen mit schweren Mehrfachbehinderungen selten im inklusiven Unterricht beschult. Dabei gibt es gute Beispiele, die zeigen, welche Rahmenbedingungen es braucht (bspw. eine Klassenfrequenz von nicht mehr als ca. 20 Kindern, eine immer anwesende Betreuungskraft, Möbel, die der Lagerung dienen, Material zur Anregung der Sinne usw.). Es gibt Beispiele, die darstellen, wie erfolgreich der Gemeinsame Unterricht für alle Kinder verläuft. Das zeigen auch Auswertungen aus Schulversuchen, wissenschaftliche Studien und Beobachtungen (z.B. B. Grob-Paeprer, R. Hetzner, N. Hömberg, W. Podlesch, A. Hinz).

Das folgende Video zeigt, wie Grundbedürfnisse von Kindern mit so genannter “schwerer Mehrfachbehinderung” im Gemeinsamen Unterricht erfüllt werden können – Grundbedürfnisse wie  die “Vermeidung von Hunger, Durst, Schmerz, das Bedürfnis nach Anregung und Abwechslung, das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit, das Bedürfnis nach Verlässlichkeit und Angenommensein und das Bedürfnis nach einer Wertigkeit im sozialen Bezugsrahmen“ (Fröhlich 1987a, 166). Diese Grundbedürfnisse gelten für alle Kinder, nur gibt es unterschieldiche Möglichkeiten und Zugänge, sich diese zu erfüllen. In dem Film geht es um Melanie, die in Rheinland-Pfalz in eine allgemeine Schule ging (Erscheinungsjahr: 1996).

Dieses Video zeigt die Schülerin Tana Vogele mit ihren Mitschülern/Mitschülerinnen im Gemeinsamen Unterricht. Die Schülerin Tana mit kröperlicher und kognitiver Behinderung spielt und lernt seit dem Kindergarten inklusiv.

Mehr zu disem Thema auch bei den Gegenargumenten zu “Inklusion funktioniert vielleicht bei Kindern mit Down-Syndrom oder Kindern im Rollstuhl, jedoch kann nicht jedes Kind mit Behinderung in eine Regelschule gehen”.

Quellen:

Feuser, G in Deutschlandradio Kultur: Bildung. Schulsystem macht Inklusion fast unmöglich. Erziehungswissenschaftler Georg Feuser fordert Umbau des Schulsystems. 2014. Online im Internet: http://www.deutschlandradiokultur.de/bildung-schulsystem-macht-inklusion-fast-unmoeglich.1008.de.html?dram%3Aarticle_id=280477

Fröhlich, A.: Erfahrungen mit der Beschulung Schwerstbehinderter. In: Der Senator für Schulwesen, Berufsausbildung und Sport (Hrsg.): Sonderpädagogik heute – Bewährtes und Neues. Referate des Sonderpädagogischen Forums Berlin. Fachtagung vom 23. bis 25. November 1987. Berlin: Zentrale Universitäts-Druckerei, S. 165-178.

Weiterführende Links:

Matt, Hedwig: “Wenn du brummst, dann singe ich” – Gemeinsamer Unterricht für alle in einer Grundschule. Schritte der Schulentwicklung in der Heinrich-Zille-Grundschule Berlin-Kreuzberg. 2007. Online im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/matt-gemeinsam.html

Matt, Hedwig/Koller-Hesse, Sabine: Kinder mit schweren Behinderungen gehören dazu. Gemeinsamer Unterricht an einer Berliner Grundschule – Konzepte und Erfahrungen. 2010. Online im Internet: http://bidok.uibk.ac.at/library/matt-koller-kinder.html

Literatur:

Basale Lernbedürfnisse im inklusiven Unterricht – Ein Praxisbericht aus der Grundschule. Das Buch zeigt anhand der Geschichte von Sandra, einem Mädchen mit basalen Lernbedürfnissen, wie Kinder mit (sehr) schweren Beeinträchtigungen inklusiv unterrichtet werden können. Petra Flieger / Claudia Müller (Hrsg.), 2016. 126 Seiten, ISBN 978-3-7815-2125-4.

Andreas Hinz (Hrsg.): Schwere Mehrfachbehinderung und Integration. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspektiven. Athena Verlag (Oberhausen) 2007. 256 Seiten. ISBN 978-3-89896-285-8. In Kooperation mit der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.

4 Kommentare

  • Wir können ja auch damit anfangen alle Brillenträger auszusortieren . Dann würden aber viele protestieren ! Wo fangen wir an wo hören wir auf ? Über 50 Prozent der behinderten Kinder habe keine Diagnose . Jedes Kind – jedes – hat Potenzial und kann nach seinem Tempo und Fähigkeit etwas beitragen . Wenn es keine Planeten benennen , erlesen oder basteln , ausmalen kann , dann kann sich dieses Kind einen Film über Planeten ansehen . Gerade im Zeitalter von Internet und Tablets haben eben diese Kinder viel mehr Möglichkeiten .
    Aber Deutschland ist und bleibt eben Entwicklungsland

  • ich hab leider keine Kinder. Mir ist im Film tana aufgefallen, wie toll auch die Klassenräume gestaltet sind, so dass in kleingruppen die Kinder zusammensitzen und lernen können — ist das in DE mittlerweile auch so, oder noch so wie früher, wo man mit Frontalunterricht konfrontiert war und alle vereinzelt saßen und nach vorne starten.

    in den USA wirken viele Schulen freundlicher und bunter, lebendiger und besser ausgestattet — das entscheidet natürlich auch, welche Bedingungen Inklusionskinder haben, sei es vom Raumangebot und Platz, als auch den Lernbedingungen.

    Zu meiner Schulzeit war Schule in DE eine trostlose Anstalt, es ging v.a. um Selektion… es gab keine einzigen Schulsozialarbeiter, man sah nnie einen schulpsychologen, kinder die unbequem waren landeten schnell auf sog Sonderschulen (so hieß das in den 1980rn noch), Asylkinder wurden einfach ohne Sprachkenntnis irgendwo sitzen gelassen und niemand beschäftigte sich mit ihm, die Sprache lernte er kaum. Kinder mit Problem wurden damals alleine gelassen, niemand kümmerte sich, solange sie in der Selektieranstalt nicht schulisch mit schlechten leistungen auffielen, die ein sitzenblleiben erforderten oder hinwegselektion auf niedere Schulformen.

    wie ist denn die Schule in DE heute so? So schlecht wie damals?

    auch heute noch scheint kein Platz zu sein für kleine gruppen in offenen Räumen, auch heute noch scheint kein platz zu sein für behinderte kinder oder schwierige schüler, die von der Norm abweichen, von der angeblichen. Auch heute noch ist kein Platz für einen Zweiten Lehrer evtl.oder echte Teamarbeit….

    seit kurzem gibt es in meinem bundesland wohl auch Schulassistenten, Schulkantinen und nachmittags AGs als Möglichkeit – oft arbeitet man aber wohl noch mit Minijobbern statt mit echten Stellen.

  • Bislang ist das noch kein Alltag in Deutschland: Mehr als drei Viertel aller behinderten Kinder lernen hierzulande an speziellen Forderschulen. In den vergangenen Jahren hat sich zwar immerhin die Einsicht durchgesetzt, dass Kinder mit korperlichen Beeintrachtigungen relativ problemlos mit den richtigen Hilfsmitteln an den Regelschulen zurecht kommen – allerdings bleiben vor allem geistig behinderte oder verhaltensauffallige Schuler nach wie vor regelma?ig au?en vor.

  • Dabei gilt es trotzdem zu bedenken, dass es da neben der allgemeinen Bereitschaft zur Inklusion solch schwerstmehrfachbehinderter Kinder weitere Komponenten gibt, die da erfüllt werden müss(t)en. Bei Kindern mit so schweren Behinderungen besteht in den meisten Fällen Pflegenbedarf, wie aus dem obenstehenden Text zumindest ansatzweise hervorgeht. Bei einem Kind, das auf einer Liege die Schule besucht, ist es wohl nicht überraschend, dass es einen Pfleger braucht. Das beginnt schon bei Schülerinnen und Schülern, die wegen ihrer Behinderung eine Windel tragen müssen. Sie brauchen eine Person, die sie wechselt und das Kind sauber macht.
    Wer nun sagen möchte, dies könne ja die Lehrkraft machen: Nein!
    Warum? Das hat viele Gründe.
    1: Viele Menschen haben eine Aversion gegenüber Ausscheidungen. Zum Lehrberuf gehört der Umgang damit nicht. Von Lehrpersonen kann daher nicht verlangt werden, dass sie fremden Kindern die beschmutzten Windeln wechseln und ihnen bei der Intimreinigung assistieren.
    2: Es ist überhaupt zulässig, dass eine Person ohne entsprechende Ausbildung das oben Genannte ausführt. Alle Lehrkräfte in den Pflegetätigkeiten weiterzubilden kann aber schon wegen der beschriebenen Aversion und der fehlenden Zuständigkeit nicht die Lösung sein.
    3: Die Verantwortung ist bei medizinischen Faktoren, die mit schwersten Behinderungen oft einhergehen, viel zu groß. Eine Lehrkraft kann nicht nur für diesen einen Schüler zuständig sein müssen, da ist immerhin eine ganze Klasse, die Aufmerksamkeit braucht. Hierbei ist zu beachten, dass auch für die behinderten Kinder ein massives Infektionsrisiko bestehen kann, denn Kinder kommen gerne auch mal mit Erkältung in die Schule.

    Wenn nun mehrere Kinder mit derartigen Problemen in einer Klasse sind und Pfleger dabei haben, und dann noch ein oder zwei andere Kinder einen Schulbegleiter dabeihaben, und man den empfohlenen Sonderpädagogen als Lehrerassistenz miteinbezieht, kommt plötzlich ein ganz schöner Haufen Erwachsener im Klassenraum zusammen. Das wiederrum stört aber die anderen Kinder, die nicht mehr sicher wissen, wer jetzt eigentlich die Autorität hat, insbesondere dann, wenn sich die Schulbegleiter einmischen. Das sollen die zwar nicht, tun es aber.
    Inklusion hat Grenzen, wer das leugnet, ist nicht ausreichend informiert.
    Beispiel: Autismus
    Bei manchen Kindern ist die ASS nur schwach ausgeprägt, wodurch sie ggf. mit Schulbegleiter eine Regelschule besuchen können. Was ist aber, wenn das KInd stundenlange Schreiattacken hat, oder aber um sich schlägt? Ab wann stellt die Inklusion für den Lehrer eine zu große Belastung oder für die anderen Kinder eine Gefahr dar?
    Auch bei der Inklusion müssen beide Seiten berücksichtigt werden, also nicht nur die behinderten Kinder, sondern auch die anderen. Sobald die Inklusion zum Nachteil aller anderen geschieht, muss sie überdacht werden.

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