“Die Sonderpädagogen wollen weiterhin ‘ihre’ Förderschule”

Jemand, der gerne in einem Betrieb arbeitet, die Bedingungen dort angenehm findet und sich dort wohl fühlt, wird nicht in die Hände klatschen, wenn er diesen Betrieb verlassen soll. Das ist nachvollziehbar. Doch verändern sich Dinge. Veränderungen in Arbeitszusammenhängen sind für die meisten nichts ungewöhnliches. Früher ging man davon aus, dass Kindern mit Behinderungen am besten in Sonderschulen geholfen ist. Heute weiss man, dass Kinder mit Behinderungen größere Lernfortschritte an der allgemeinen Schule machen und ihre Bildungschancen dort steigen (siehe hier). Diese Erkenntnisse und das Menschenrecht auf inklusive Bildung machen einen strukturellen und qualitativen Wandel erforderlich.

Sonderpädagoginnen/Sonderpädagogen sind keine homogene Gruppe. Immer mehr Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen machen sich für Inklusion stark und haben Freude an der Arbeit in inklusiven Settings. Viele suchen ganz bewusst die Herausforderung inklusive Prozesse zu begleiten und Ausgrenzungen auch innerhalb der Lerngruppe entegenen zu treten.

Der Prozess der Inklusion macht aber auch vielen Angst. War man es jahrzehntelang gewohnt eine Förderklasse in einer Förderschule zu unterrichten, ist mit Engagement und Herzblut an die Arbeit gegangen und hat “seine” Schule lieb gewonnen, dann fällt ein Wechsel schwer. Gerade wenn man sich stark mit seiner Arbeit und seiner Einrichtung, der Förderschule, identifiziert, werden viele bei dem Vorhaben Inklusion nicht in Jubelschreie ausbrechen, auch wenn es unter dem Aspekt der Menschenrechte und der Wissenschaft unbedingt nötig und sinnvoll ist.

Wenn es nach der Wissenschaft ginge, müsste die Förderschule von heute auf morgen geschlossen werden.” (Prof. Hans Wocken, 27.11.2009, Kreiszeitung, siehe auch hier: Forschungsergebnisse_GU).

Bei der Inklusion regen sich Widerstände (ähnlich wie bei anderen schulpolitischen Reformen). Daher gilt es die Sonderpädagoginnen/Sonderpädagogen, die an Förderschulen arbeiten, fortzubilden und ihnen den Nutzen von inklusiver Bildung sowie die bevorstehenden Veränderungsprozesse darzustellen. Das gilt für Sonderpädagogen und allgemeine Lehrerinnen gleichermaßen.

Auch wenn die Vorstellung für viele Lehrer/-innen unangenehm ist, nicht mehr allein im Klassenzimmer zu sein, sondern eine/n zweite/n Pädagogin/Pädagoge an der Seite zu haben, ist das 2-Pädagogen-System für die inklusive Bildung der richtige Weg. Diese Begleiterscheinung der Inklusion (Teamteaching) führt bei manchen Lehrern/Lehrerinnen vielleicht zu mehr Kopfzerbrechen  als die Inklusion selbst. Fortbildungen und Hospitationsmöglichkeiten sollten diese Sorge nehmen.

Viele Sonderschullehrer/-innen halten die inklusive Bildung ohnehin für sinnvoll, bemängeln aber die schlechten Bedingungen an den Regelschulen. Hier muss die Politik stärker mit anpacken und endlich die notwendigen Rahmenbedingungen herstellen. Der US-amerikanischer Psychologe Julian Rappaport sagte dazu:

Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz.“ (Julian Rappaport)

Inklusive Bildung braucht bestimmte Rahmenbedingungen (siehe dazu auch die Argumente zum Thema Ausstattung). Daher sollte auch die Idee der umgekehrten Inklusion stärker ins Auge gefasst werden, indem gut ausgestattete, barrierefreie Förderschulen zu inklusiven Regelschulen werden.

Dennoch gibt es viele Sonderpädagoginnen/Sonderpädagogen und ihre starke Lobby, die für den unbedingten Erhalt der Förderschulen kämpfen und beharrlich an den Vorurteilen gegenüber der inklusiven Bildung festhalten. So glauben bspw. Verbände der Sprachheilpädagogik, dass Kindern mit dem Förderbedarf “Sprache” am besten auf der Sprachheilschule geholfen wird. Empirische Befunde, die diese These stützen, existieren bisher nicht – empirische Befunden, die zeigen, dass Kinder mit “Sprachentwicklungsstörungen” besser im inklusiven Unterricht gefördert werden, dagegen schon (siehe hier).

Wirft man einen Blick auf die langjährige Debatte des Gemeinsamen Unterrichts, so lässt sich feststellen, dass bestimmte Organisationen und Einzelpersonen der Idee des Gemeinsamen Lernens schon sehr früh und unter Einfluss massiver Mittel etwas entgegen gesetzt haben. So drohte einem Professor der Behindertenpädagogik, der sich für Integration einsetzte, in den 70er Jahren der Rausschmiss. Ein anderer Professor, der sich für den Gemeinsamen Unterricht einsetzte, durfte nicht mehr für die “Fachzeitschrift Heilpädagogik” des Verbands Deutscher Sonderpädagogen schreiben. Die Behindertenpädagogik bzw. Rehabilitationspädagogik bzw. Sonderpädagogik spaltete sich. Das eine Lager wollte und will nichts an dem Förderschulwesen ändern. Das andere Lager hatte ähnliche Gedanken wie Maria Kron 2006:

Nach der vernichtenden Praxis des Nationalsozialismus wurde in Ost wie in West ein breites Fördersystem für Kinder und Jugendliche mit Behinderung aufgebaut – ein System, das mit relativ guten Ressourcen ausgestattet wurde, um die Eingliederung von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Nicht bedacht wurde allerdings, was es bedeutet, dass die Eingliederung ausgerechnet auf dem Weg der Aussonderung, der Bildung und Erziehung von Kindern in Sondereinrichtungen gelingen sollte – ein Vorhaben, das eigentlich eine Quadratur des Kreises ist. Ausgerechnet die Förderung in getrennten Lebenswelten sollte für die gesellschaftliche Eingliederung sorgen” (Maria Kron 2006, S.6. Gemeinsame Bildung und Erziehung aller Kinder – verschiedene Wege in Europa).

So setzten sich Professorinnen/Professoren, Lehrerinnen/Lehrer, Eltern und Organisationen für die nichtaussondernde Bildung ein. Andere hielten und halten an dem Förderschulsystem fest.

Auch wenn mit der UN-Behindertenrechtskonvention niemand mehr laut gegen den Gemeinsamen Unterricht wettert, so verschaffen sich verschiedene Verbände immer wieder Gehör, indem sie sich gegen die flächendeckende inklusive Bildung (wenn auch etwas weicher) aussprechen. Nach außen hin wird zwar behauptet, dass die „UN-Behindertenrechtskonvention“ und die Inklusion eine gute Sache seien (man kann sich heute auch schlecht hinstellen und etwas gegen eine Menschenrechtskonvention sagen, das war damals bei der Integration in den 70er Jahren erheblich einfacher), aber tatsächlich wird versucht die Förderschule als eine gute Möglichkeit von vielen darzustellen. Machne Sonderpädagogen/-innen bangen geradezu um ihre exklusive Institution und dem damit verbundenen exklusiven Status.

Formulieren wie “Inklusion, aber nicht bei…” oder “Im Einzelfall sicher sinnvoll” oder “Artikel 24 meint etwas ganz anderes…” zeigen die langjährige Skepsis gegenüber inklusiver Bildung. Manche Sonderpädagogen meinen auch, dass die Studien Unfug seien und ihre Förderschule die Kinder sehr gut fördere. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass Vorurteile rational nicht haltbar sind und empirische Befunde nicht ausreichend, um Vorurteile abzubauen (siehe auch hier). Vor allem die positiven Erfahrungen im inklusiven Unterricht selbt, brauen Vorurteile ab und nehmen Ängste und Sorgen (siehe auch Beispiel Elke).

Um Förderschulen zu erhalten wird auch gesagt, dass die inklusiven Schulen erst tippitoppi ausgestattet werden müssen – ein Zustand der -Inklusion hin oder her- wohl auch bei nichtinklusiven Schulen schwer zu erreichen ist. Denn überall fehlt es an etwas, von den unsanierten Schulklos bis hin zur tropfenden Turnhalle. So gesehen kann man ewig warten, was vielleicht genau die Intention dieses Arguments ist. Gerne wird auch gesagt, dass die Gesellschaft erst inklusiv sein müsse, bevor man behinderte Kinder in die Regelschule schickt – eine sich in den Schwanz beissende Katze, da die Gesellschaft ja gerade durch inklusive Bildung die Chance hat inklusiv zu werden.

Gerne wird auch auf das Elternwahlrecht verwiesen, welches sich übrigens nicht aus der UN-Behindertenrechtkonvention ableiten lässt. Das Recht auf Inklusion ist ein Recht der Person mit Behinderung wie die Monitoring-Stelle des Deutschen Instiuts für Menschenrechte betont:

Die Eltern haben bei der Ausübung der elterlichen Sorge den Leitgedanken der Inklusion zu beachten und ggf. zu erklären, warum sie keine inklusiven Bildungsangebote wahrnehmen. Die Elternberatung, von welcher Seite auch immer, muss einbeziehen, Eltern das Recht auf inklusive Bildung vorzustellen und die Eltern hinsichtlich ihrer Gewährsfunktion aufzuklären” (DIMR 2011).

Lange Zeit haben auch viele Sozialpädiatrische Zentrum und andere Beratungsstellen zu Eltern gesagt „Die Förderschule ist gut für ihr Kind“ und sie an die Förderschulen “wegberaten”. Das Aussortieren hat leider eine lange Tradition. Noch immer gibt es viele, die Inklusion im Bildungssystem ablehnen. Diese Ablehnung zieht sich durch alle Gruppen von Lehrer/innen – unabhängig der Profession (siehe auch hier).

Wer könnte eiegntlich noch ein Interesse daran haben, dass Schülerinnen/Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf dort bleiben, wo sie zum größten Teilen sind – in Sonderinsitutionen? Der deutsche Philologenverband, der Verband deutscher Gymnasiallehrer, der Realschullehrerverband und der Verband deutscher Sonderpädagogen haben sich lange gegen die Idee der inklusiven Bildung gewehrt und tun das teilweise auch heute noch. Dahinter steht wohl die Angst, dass unser Schulsystem seine Gliederung verliert, was ja auch langfristiges Ziel von inklusiver Bildung ist und die Angst vor der “sozialen Durchmischung”. Denn Inklusion stellt die Systemfrage. Ähnliche Widerstände und ähnliche Verteidigungshaltungen gegen eine soziale Durchmischung traten übrigens auch in Hamburg auf, als versucht wurde eine sechsjährige Grundschule einzuführen. Bei diesen Debatten wird sich immer wieder für oder gegen das Elternwahlrecht ausgesprochen, wie Prof. Hans Wocken in seinem Aufsatz “Elternwahlrecht !? Über Dienstbarkeit und Endlichkeit des Elternwillens” eindrücklich veranschaulicht. Anders ausgedrückt: Viele haben einfach Angst, wenn grüne Socken nicht in der Schublade für grüne Socken landen und rote nicht in der Schublade für rote Socken. Die Widerstände entstehen, weil eine bunte Sockenkiste für viele einfach schwer vorstellbar ist. Dafür wird auch gerne behauptet, dass Förderschulen sinnvoll seien. Nur für wen?

Vielleicht fällt es manchen Sonderpädagogen/-innen auch schwer sich von der Förderschule zu trennen, da sie dann nicht mehr “allein” in einer kleinen Klasse mit ausschließlich Schülerinnen/Schüler mit Behinderung arbeiten. Auch die Angst überflüssig zu werden, könnte eine Rolle spielen. Das Personal an den Förderschulen wird aber dringend gebraucht. Inklusiver Unterricht lebt von anregender Teamarbeit zwischen Sonderpädagogen und allgemeinen Pädagogen. Hier braucht es auf beiden Seiten ein Umdenken. Sonderpädagogen müssen mehr inklusive Prozesse in den Blick nehmen und die Nicht-Sonderpädagogen müssen Mitverantwortung für Kinder mit Förderbedarf übernehmen. Das ist nichts neues. Manche Schulen arbeiten schon seit Jahrzehnten erfolgreich im Team. Doch anstatt einer heterogenen Lerngruppe, wollen manche Lehrer/-innen auch mit der bisherigen ausgesiebten Gruppe fortfahren und keine Umstellungen, wie möglicherweise auch aufwendigerer Didaktik, Team-Teaching und die Konfrontation mit noch mehr Vielfalt, in Kauf nehmen.

Warum fällt die Ablösung von der Förderschule so schwer? Mit der Identifikation “Sonderschule” kann auch eine Ich-erhöhenden Perspektive als besonders hart arbeitender Pädagoge eingenommen werden. Die Bezeichnung „schwer behindert“, „schwer verhaltensgestört“ oder „schwerstbehindert“ (immer mit dem Superlativ “schwer”) beschreibt weniger das Kind mit Behinderung, sondern eher die Person, die den Begriff verwendet. Definitionen repräsentieren viel mehr das jeweilige Menschenbild des Definierenden (vgl. Fornefeld 1998, S. 26). Die Reaktion, wenn gesagt wird “ich arbeite mit schwerstbehinderten Kindern” ist eine andere als wenn gesagt wird “ich arbeite mit Kindern”. Das „schwer“ unterstreicht die „schwere“ Arbeit mit „diesen Kindern“, hebt die Professionen von der Allgemeinpädagogik ab und macht sie zu etwas, was besondere Anerkennung verdiene.

Genauso wie Behinderung nicht gleich Behinderung ist, ist Sonderschulpädagogin/Sonderschulpädagoge nicht gleich Sonderschulpädagogin/Sonderschulpädagoge. Viele Sonder-, Inklusions- und Allgemeinpädagoginnen/-pädagogen setzten sich aktiv für den Ausbau des inklusiven Unterrichts ein – ohne wenn und aber.

Förderschule MEINS ©Inklusionsfakten.de

 

Quellen:

Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung: Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch
Zentrale Befunde der Studie Deutsch Englisch Schülerleistungen International (DESI). Eine Studie im Auftrag der Kultusminister der
Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main: 2006. Link: http://www.dipf.de/de/forschung/projekte/pdf/biqua/desi-zentrale-befunde

Deutsches Institut für Menschenrechte: Stellungnahme der Monitoring-Stelle (31. März 2011) Eckpunkte zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems (Primarstufe und Sekundarstufen I und II)
Empfehlungen an die Länder, die Kultusministerkonferenz (KMK) und den Bund. 2011. Link: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/stellungnahme_der_monitoring_stelle_eckpunkte_z_ verwirklichung_eines_inklusiven_bildungssystems_31_03_2011.pdf

Klieme, Eckhard: Zusammenfassung zentraler Ergebnisse der DESI-Studie. Frankfurt am Main: 2006. Link: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2006/2006_03_01-DESI-Ausgewaehlte-Ergebnisse.pdf

Wocken, Hans: Elternwahlrecht !? Über Dienstbarkeit und Endlichkeit des Elternwillens. Link: http://www.eine-schule-fuer-alle.info/fileadmin/dokumente/forschungsergebnisse/WockenElternwahlrecht.pdf

3 Kommentare

  • Ist Sonderschullehrer/innenbashing wirklich hilfreich?

  • In „ unserer „ Förderschule wird mit Vorliebe Unterschieden in : behindert , schwerbehindert , Schwerstbehindert und schweeeeeeeeerstttbehindert ! Und dann darf meine Tochter die vielleicht nur schwerbehindert ist den Schwerstbehinderten jungen im Rollstuhl schieben und die Pädagogen gucken zu .
    Für mich ist das die einäugigen helfen den Blinden und wenn dann noch was passiert sind sie eben selber schuld . Na Bravo ! Was an dieser Pädagogik ist sonderpädagogisch ? Für mich besonders unprofessional .
    Und das ist nur die Spitze des Eisberges und keine Ausnahme !!!

Mitdiskutieren

Sie können dieseHTML Schlagworte und Eigenschaften verwenden: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>