Aussonderung sichtbar machen – ein Text gegen das Vergessen

Viele haben sie noch – die schwarz-weiss-Bilder von den Großeltern oder Eltern als sie noch Kinder waren. Wie süss sie aussehen in ihren Strickjacken, Faltenröckchen oder kurzen Hosen. Kaum zu glauben, dass daraus mal ein alter Mann oder eine alte Frau wurde. Diese schwarz-weiss-Fotos zeigen Familiengeschichte. Viele auf solchen Bildern leben heute nicht mehr. Manche wurden nicht älter als zehn Jahre alt. Warum? Weil sie nicht den rassenhygenischen Vorstellungen der Nationalsozialisten entsprachen und weil sie als „behindert“ bezeichnet wurden.

Diese Kinder passten nicht in das das nationalsozialistische Familienbild. Kinder, die als „schwach- oder stumpfsinnig“, als „Idioten“, als „Krüppel“ oder ähnliches bezeichnet wurden, störten die Vorstellung der „reinen Rasse“. Adolf Hitler erklärte schon 1929 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg: (dass die) Beseitigung von 700.000 bis 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeborenen jährlich, eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung.“

Die Folge dieser menschenverachtenden Ideologie war die Ermordung von ca. 200.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung, die während des Nationalsozialismus als „lebensunwert“ bezeichnet wurden. Die von Hitler befohlene „T4-Aktion“ ist auch heute noch vielen Menschen unbekannt. T4 steht für Tiergartenstrasse 4, von der dortigen Zentraldienststelle wurde die Ermordungsaktion organisiert. Von 1940 bis 1941 wurden Menschen mit Behinderungen aus den damaligen „Anstalten“ oder den Familien geholt. Graue Busse transportierten sie in Tötungsanstalten. Dort wurden sie systematisch umgebracht, zwangssterilisiert oder für grausame Experimente missbraucht. Auch viele Kinder („Kindereuthanasie“) waren darunter. Diese “T4-Aktion” war “der Testfall für den Holocaust” (Götz Aly, der Freitag 11/2013). Dies war nur möglich, weil viele in dieser menschenfeindlichen Zeit, mitgeholfen haben. Auch Eltern stimmten damals der Ermordung ihrer Kinder zu.

Die Hilfsschule erlebte in dem Nationalsozialismus übrigens keine Schwächung, sondern einen Ausbau, da Hilfsschulvertreter sich für die Aussonderung von „Behinderten“ und „gehemmten“, die „noch bildbar“ waren, stark machten. Sie sollten nicht mehr in der Volksschule stören und so zur „Volksschädigung“ beitragen. Der Hilfsschulverband lehnte die drei aufgestellten Kategorien („hilfsschulbedürftig“-“noch bildbar“, „angeboren schwachsinnig“-“noch brauchbar“, „unbrauchbar“) nicht vehement ab (vgl. Schumann, Streitschrift Inklusion, 2018, S. 19).

Der Begriff „Euthanasie“ bzw. „Gnadentod“ sollte die T4-Aktion verschleiern,. Aufgrund von Widerstand, auch in den Kirchen, wurde sie nach 1942 nicht mehr zentral, sondern dezentral fortgesetzt.

Marylene konnte und durfte nicht weiter leben. Marylene spielte gerne mit Puppen. Sie hatte viele Geschwister, kannte Kinderlieder und galt als fröhliches Kind. Der Vater war bekennender Nationalsozialist und beruflich sehr erfolgreich. Marlyene sollte weg. Sie wurde mit der Diagnose „mongoloide Idiotie“ mit neun Jahren in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht. Die Bedingungen (wie Hunger, Deprivation, Verwahrlosung) dort und die Isolation von der Familie erschwerten ein Überleben. Sie starb mit am 5. Mai 1940 um 13.10 Uhr. Sie wurde keine 12 Jahre alt. Als Todesursache wurde Bronchopneumonie angegeben (vgl. Rena Jacob, wider-des-vergessens-org, online im Internet). 

Zur Tötung der Kinder wurden zeitlich gestaffelte und überdosierte Medikamente eingesetzt und unter das Essen der Kinder gerührt oder gespritzt (Luminal, Veronal, Trional oder Morphin). Die Folge waren Atemlähmungen, Kreislauf- und Nierenversagen oder Lungenentzündungen. „So konnte immer eine scheinbar natürliche, unmittelbare Todesursache attestiert werden“ (Stefan Loubichi, online im Internet 2014).

Besonders beliebt schien unter den nationalsozialistischen Ärzten die Versuche an Kindern mit Behinderungen. Sie wurden gequält, mussten verhungern oder grausame Schmerzen erleiden. Zuvor hat der Anstaltsleiter oder die Hebamme Zettel ausgefüllt. Es wurde angekreuzt, welche der Kinder „verdächtige Leiden“ hatten. Der Bogen ging an das Gesundheitsamt und von dort an den „Reichsausschuss“. Das ausgefüllte Zettel reichte zum Todesurteil. Eine weitere Überprüfung fand nicht statt (vgl. Rena Jacob, wider-des-vergessens-org, online im Internet).

Theodor Adorno sagte 1966, dass das oberste Ziel von Erziehung sein muss, dass sich Auschwitz nicht wiederhole. Wie kann ein Schulsystem heute aussehen, in denen junge Menschen lernen, dass Unterschiede nichts beängstigendes sind, sondern unser Leben reicher machen? Wie muss ein Schusystem gestaltet werden, damit keine merkwürdige „Faszination“ am „Behindertsein“ entsteht, sondern ein entspannter Umgang mit Menschen, die sich von mir unterschieden („Ach, das ist Lukas, der schreit manchmal, wenn es ihm zu viel wird“)? Was muss in den Schulen verändert werden, damit Kinder mit Behinderungen ein selbstverständlicher Teil der Klassengemeinschaft sind und Mitschüler/innen nachfragen, wenn das Kind fehlt? Alle Kinder (und ihre Eltern) brauchen die Sicherheit Mitglied der Klasse zu sein und zu bleiben, auch wenn wir mal wütend sind, auch wenn wir mal verzweifeln, auch wenn wir die Ferien sehnlichst herbei wünschen, das Kind IST und BLEIBT Mitglied dieser Klasse.

Dafür braucht es eine klare inklusive, diskriminierungsfreie, vorurteilssensible Haltung. Inklusive Klassen sind gelebte Demokratie. Kinder mit Behinderungen haben das in der UN-Behindertenrechtskonvention formulierte Recht auf inklusive Bildung und angemessene Unterstützung, die sie für die gleichberechtigte Teilhabe benötigen. Hier fehlt es an Personal, Räumlichkeiten, Sachmitteln – und das, obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention schon über neun Jahre in Kraft ist.

Ein trennendes Schulsystem zwischen Kindern ist weder vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention, noch fördert es unsere Werte einer demokratischen, offenen, toleranten Gesellschaft. Auch die Abschließende Bemerkung der UNO zum Recht auf inklusive Bildung macht deutlich:

Das Aufrechterhalten von zwei Bildungssystemen, einem allgemeinen Bildungssystem und einem Sonderbildungssystem/auf Segregation beruhenden Bildungssystem ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention.

Nur warum gibt es überhaupt Förderschulen, die früher Sonderschulen hießen – gerade nachdem deutlich wurde, dass trennende Systeme eine Entfremdung und trennende Vorstellungen begünstigen? Nach dem Nationalsozialismus wollte man Menschen mit Behinderungen (denen, die noch lebten und den Kindern) etwas Gutes tun.

Um sich von Schuld bequem zu entlasten, machte sich die damalige Politik zum Handlanger der Sonderpädagogik und verfestigte bildungspolitisch die Vorstellung von der Sonderpädagogik als Anwalt der Behinderten und ihrem Recht auf Leben“ (Schumann 2018, S.17). So entstand ein ausdifferenziertes Förderschulsystem: Seit der Empfehlung der KMK zur Ordnung des Sonderschulwesens von 1972 existieren zehn verschiedene Förderschultypen.

Nach der vernichtenden Praxis des Nationalsozialismus wurde in Ost wie in West ein breites Fördersystem für Kinder und Jugendliche mit Behinderung aufgebaut – ein System, das mit relativ guten Ressourcen ausgestattet wurde, um die Eingliederung von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Nicht bedacht wurde allerdings, was es bedeutet, dass die Eingliederung ausgerechnet auf dem Weg der Aussonderung, der Bildung und Erziehung von Kindern in Sondereinrichtungen gelingen sollte – ein Vorhaben, das eigentlich eine Quadratur des Kreises ist. Ausgerechnet die Förderung in getrennten Lebenswelten sollte für die gesellschaftliche Eingliederung sorgen(Maria Kron 2006, S.6. Gemeinsame Bildung und Erziehung aller Kinder – verschiedene Wege in Europa).

Und obwohl zahlreiche Studien belegen, dass Kinder an Förderschulen schlechter lernen, abgehängt und an den Rand gedrängt werden, ein negatives Selbstkonzept verinnerlichen können und die Trennung ein aufeinanderzugehen im Erwachsenenalter immer schwiergier macht, halten viele an dem System fest (siehe hier). Deutschland hat sich menschenrechtlich und auch aus unserem Grundgesetz heraus zur Inklusion verpflichtet.

Es ist ein Aspekt von Menschlichkeit, wenn sich im Inneren eines Menschen heftiger Widerstand und Abscheu regt, beim Gedanken an das Aussortieren von Kindern mit Behinderungen und Ekel und Entsetzen beim Gedanken, wohin das führen kann. Doch es gibt Menschen, die verspüren keinen Widerstand und kein Abscheu. Es gibt Menschen, die wünschen sich, dass Kinder mit Behinderungen weiterhin unter ihresgleichen spielen und lernen.

Der AfD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag im Saarland, Josef Dörr, vergleicht Förderschüler/innen mit ansteckenden Patienten. Für ihn gibt es „normale“ und „kranke“ Schüler/innen. Die Inklusion lässt die Situation entstehen, dass bspw. Kinder mit Down-Syndrom mit anderen Kindern, die ganz normal, gesund sind, lernen. Er sagte in einer Debatte zum Thema inklusive Bildung am 18.April 2018: Was aber unter keinen Umständen geht, ist, dass in dem gleichen Krankenhaus oder er gleichen Abteilung dann auch Menschen sind mit übertragbaren Krankheiten, schweren ansteckenden Krankheiten. Das ist ein Bild. Aber in der Schule haben wir die gleiche Situation“ (Saarbücker Zeitung online, 19.04.2018).

Behinderung wird vom AfD-Politiker Dörr mit übertragbarer Krankheit gleichgesetzt. Formulierungen wie „anders“ und „normal“ produzieren Ausschluss und vermitteln Normen darüber, was als Abweichung und was als den „gewünschte Zustand“ gilt. Man braucht nicht „herumzuspinnen“ um sich vorzustellen, wohin ein solches Denken führen kann. Der Sprung von „krank“ zu „schwach“ ist nicht all zu weit. Und der Spalt von „schwach“ zu „lebensunwert“ kann schnell schmaler werden.

Der Glaube daran, dass die Anwesenheit eines Kindes mit Behinderungen die Lernleistung der anderen schwächt, hält sich, obwohl diverse Studien zeigen, dass die Leistungsheterogenität in einer Klasse ist für die Leistungsentwicklung egal ist. Wenn ein Kind ohne Behinderung schlecht lernt, dann kann das viele Gründe haben. Weder die Inklusion noch eine Behinderungen sind ursächlich dafür (siehe hier).

Wollen wir Demokratie leben und eine Gesellschaft in der Vielfalt als Bereicherung und nicht als Bedrohung gesehen wird, brauchen wir ein Schulsystem, in dem Kinder Vielfalt kennen lernen dürfen. Kinder haben ein Recht auf Erfahrungen im Umgang mit Menschen, die sich von ihnen unterscheiden. Denn so entsteht Empathie, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft. Eine „Fremdheit“, Vorurteile oder Isolation entstehen gar nicht erst, spielen und lernen unterschiedliche Kinder und Jugendliche gemeinsam, unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Familienform, ihrer sexuellen Identität, ihres Geldbeutels, ihrer Religion/Weltanschauung oder einer Behinderung. Ziel muss sein, eine menschenverachtende Ideologie, die Menschen in „lebenswert“ und „lebensunwert“ einteilt, zu verhindern und Kindern zu Gleichberechtigung, Freiheit und Geschwisterlichkeit zu erziehen. Alle Kinder haben das Recht auf Leben, auf Unversehrtheit, auf Fürsorge und auf inklusive Bildung.

Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht(Theodor Adorno 1966).

Quellen:

Adorno, Theodor: Erziehung nach Auschwitz. 1966. Zeit online. Online im Internet: https://www.zeit.de/1993/01/erziehung-nach-auschwitz (Datum der Recherche: 21.04.2018).

Der Freitag: Tödliches Nichtswissenwollen. Online im Internet: https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/toedliches-nichtwissenwollen (Datum der Recherche: 27.01.2020).

Jacob, Rena: Die Kinder-Euthanasie im Nationalsozialismus. Online im Internet: http://www.wider-des-vergessens.org/index.php?option=com_content&view=article&id=226%3Aeuthanasie-definition-im-wandel-der-zeit&catid=17%3Aeuthanasie&limitstart=3 (Datum der Recherche: 21.04.2018).

Kron, Maria: Gemeinsame Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung – verschiedene Wege in Europa. 2006. Online im Internet: http://www2.uni-siegen.de/~zpe/eceis/documents/Gemeinsame%20Bildung%20und%20Erziehung%20von%20Kindern%20mit%20und%20ohne%20Behinderung%20%96%20verschiedene%20Wege%20in%20Europa.%20Prof.%20Dr.%20Maria%20Kron.pdf

Loubichi, Stefan: „Aktion T4“ – Systematischer Mord der Nazis an behinderten Menschen. Erstellt: 3. November 2014 | Aktualisiert: 4. März 2017. Online im Internet: http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/aktion-t4-systematischer-mord-der-nazis-an-behinderten-menschen/ (Datum der Recherche: 21.04.2018).

Saarbücker Zeitung: Empörung im Landtag. AfD vergleicht Förderschüler mit ansteckenden Patienten. 19.04.2018. Online im Internt: https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/saarland/afd-vergleicht-foerderschueler-mit-ansteckenden-patienten_aid-17434503

Schumann, Brigitte: Streitschrift Inklusion. Was Sonderpädagogik und Bildungspolitik verschwigen. Frankfurt/M.: Debus Pädagogik Verlag, 2018.

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