Das Angelspiel oder woran mich unsere Gesellschaft manchmal erinnert

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Das Angelspiel – wer kennt es nicht: Blaue, pinke, grüne und gelbe Fische, die ihren Mund auf und zu machen, werden mit der farblich passenden Angel herausgefischt. Die grüne Angel sucht und findet grüne Fische, die blaue Angel blaue, die rote Angel schnappt sich die roten Fischlein usw.. Zieht versehentlich der Magnet der roten Angel einen gelben Fisch heraus, so ist dies ein Fehler im Spiel und somit unerwünscht. Währenddessen dreht sich der Fischpool wie die Erde im Kreis.

Angenommen der sich drehende Pool wäre die Gesamtheit der Menschen in Deutschland. Die roten, blauen, gelben und grünen Fische wären ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen und Vielfaltsmerkmalen. Da gibt es schwule Fische, Fische mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, Fische, die sich Kaviar niemals leisten können, Fische mit und Fische ohne Behinderung, Fische unterschiedlicher Herkunft usw.. Nur mal angenommen es wäre so, dass wir alle diese bunten Fische in diesem sich drehenden Pool sind. Welche Frage schließt sich da nicht fast zwangsläufig an, als die, welche Fischlein nicht mit uns im Pool schwimmen? Welche Fische wurden aufgrund einer Farbe, also aufgrund eines Merkmals, von der mächtigen Angel aussortiert?

Extra Pools gibt es für viele kleine Förder-Fischleins, die in Förderbecken schwimmen. In Deutschland lernen rund 80 Prozent der Schülerinnen/Schüler mit Behinderung getrennt von ihren nichtbehinderten Altersgenossen. Dabei gibt es nicht ein einziges Sammelbecken für Förderschülerinnen/-schüler, sondern seit der Empfehlung der KMK zur Ordnung des Sonderschulwesens von 1972 existieren zehn verschiedene Förderschultypen – für jedes Kind die scheinbar passende Förderschule.

Einen extra Pool gibt es auch für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten, sogenannter „geistiger“ Behinderung. Der Großteil arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Da ist ein Verdienst von monatlich durchschnittlich 180 Euro drin. Viele wollen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, doch die mächtige Angel hat anderes mit Ihnen vor. Zudem wurden die Fische schon früh, als Kinderfische, aus dem gemeinsamen Pool aussortiert. Die erwachsenen Fische kennen die aussortierten Fische gar nicht mehr und wollen sie lieber nicht als Kollegin/Kollegen oder Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer.

Einen weiteren separaten Pool stellen die vielen Altenheime da. Alte Fische, die nicht mehr richtig schwimmen können, sortiert die Angel rigoros aus. Ab mit ihnen in eine große künstliche, frisch gestrichene Sondereinrichtung mit irgendwelchen Qulitäts-Blabla, wo sie scheinbar alles haben, was sie brauchen. Möglichst wenig Personal sorgt flink für „satt und sauber“. Nur wenn sie alle zur gleichen Zeit umgedreht werden wollen, weil der Dekubitus schmerzt, gibt es ein Problem.

Gibt es auch einen extra Pool für Fische mit wenig Geld? Zumindest die Förderschule mit den Förderschwerpunkt Lernen, so haben Studien herausgefunden, sind ein Sammelbecken für Kinder, deren Eltern Harz IV beziehen, die nicht „deutscher Herkunft“ sind und aus kinderreichen Familien kommen. Die Angel hat sie nicht herausgefischt, weil sie dumm sind, sondern weil die Angel sie herausfischen will, um den Förderschulteich zu füllen und damit sie im „Hauptpool“ nicht „stören“. UNO-Fische nennen das „strukturelle Menschenrechtsverletzung“.

Vergessen wir nicht die großen „totalen Institutionen“ (Erving Goffman): Anlagen im Grünen, in denen Menschen mit Behinderung, psychischer Erkrankung oder Demenz wohnen, leben, arbeiten, ihre Freizeit verbringen und sogar in einem grundstückeigenen Supermarkt einkaufen können. Ein eigenes Café auf dem Gelände verhindert auch die letzte Kontaktmöglichkeit zu anderen Fischen. Wie geht es den Fischen in diesem total in sich geschlossenen Schwimmbecken denn so? Anstatt auf ein Popkonzert oder ins Fußballstadion gehen selbst junge Leute mit Behinderung, die in einer solchen Einrichtung wohnen, Samstag drei Runden um den nahegelegten See. Sie können sich schöneres vorstellen, wurde mir mitgeteilt.

Und wie geht es den anderen Fischen, die sich mehr oder weniger selbstbestimmt im „Hauptpool“ drehen? Wie geht es Ihnen? Kennen Sie die anderen Fische noch? Wenn der Vergleich vom Angelspiel zu unseren selektierenden Systemen stimmt, wollen wir dann nicht alle Inklusion?

Besser als Vorurteile und Feindlichkeit abzubauen, ist es doch sie gar nicht erst entstehen zu lassen. Hier sollte man bei den ganz jungen Fischlein anfangen. Denn spielen und lernen junge Kugelfische, Goldfische, Schollen, Tintenfische und auch Wale gemeinsam (ich weiß, dass Wale Säugetiere sind, aber genau das ist Inklusion), dann haben sie später weniger Vorbehalte. Durch das gegenseitige Kennen, entsteht Empathie und Toleranz, so dass ein sabbernder Kugelfisch, eine alles dreimal wiederholende Scholle, ein Tintenfisch ohne Tinte, ein hochintelligenter Goldfisch und ein bipolarer Wal gemeinsam leben können – als Kolleginnen/Kollegen, als Freundinnen/Freunde, als Familie, als Nachbarn oder als Bürgerinnen/Bürger. Verschiedene Poole braucht es dann nicht mehr (der Vergleich mit Fischen und Walen ist metaphorisch zu verstehen, eine Zusammenlegung aller Aquariumtiere in ein Becken wäre nicht Inklusion, sondern ein grausames Experiment).

Menschen unterschiedlicher Herkunft mit unterschiedlich viel Geld, mit Hochbegabung oder Lernschwierigkeiten, mit unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen mit unterschiedlichen Elternhäusern, mit verschiedenen Regionen/Weltanschauungen, Lebenserfahrungen, Geschmäckern, Talenten, sexuellen Identitäten, haben viel miteinander gemeinsam. Sie haben das Recht gemeinsam zu lernen und sich zu entwickeln.

Die Angel kann auch Sie eines Tages aus dem „Hauptpool“ ziehen. Dafür brauchen Sie noch nicht einmal alt und gebrechlich sein. Ein Unfall oder eine Erkrankung reichen schon. Auch Armut oder ein schwerer Schicksalsschlag erhöhen die Chancen, dass sie in einen extra Pool geraten. Manchen kann ein „Extra-Pool“ zeitweilig helfen. Manche wollen ganz bewusst und freiwillig in einem „Extra-Pool“ leben. Sie haben sich dafür entschieden.

Es gab einmal eine Zeit, da reichte es schon schwul, lesbisch, jüdisch, kommunistisch, behindert oder „irgendwie anders“ zu sein, um aus dem Pool herausgezogen zu werden. Es wurde damals schnell deutlich, wer überhaupt schwimmen darf und wer nicht.
Dabei schwimmen wir doch eigentlich alle ganz gerne zusammen in ein und demselben Pool. Und genau das ist die Idee der Inklusion. Keiner muss, aber alle haben das Recht am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben. Keine Angel der Welt darf jemanden gegen seinen Willen aus dem Pool fischen. Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal das Angelspiel spielen. Petri Heil!

Bild: Lisa Reimann

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