Ein Recht, das kein Recht ist – Gegen den Willen auf die Förderschule 

Berlin 2022: Yassin liegt in der Kita auf einer weichen Matratze. Zwei Kinder liegen neben ihm. Eine Erzieherin liest ein Buch vor und eine Helferin drückt vorsichtig Sondennahrung über eine große Spritze in einen Schlauch, der aus Yassins Bauch kommt. Nichts besonderes für die Kitakinder. Streit um die Spritze gibt es schon lange nicht mehr. Jedes Kind hat inzwischen eine zum Spielen zu Hause. Es ist der letzte Kitatag. Für viele aus der Gruppe geht es nach den Ferien in die Schule. Was für viele Familien schon aufregend genug ist, ist für Yassins Vater ein Kampf, der jetzt zu verlieren droht. Dabei ist das Recht, sogar das höchste Recht, auf der Seite von Yassin und seiner Familie.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat 2006 die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet. 2009 wurde sie in Deutschland ratifiziert. Nach ihr haben Kinder das Recht auf inklusive Bildung. Die notwendige Unterstützung muss ihnen gewährt werden. Dazu hat sich Deutschland als Vertragsstaat völkerrechtlich verpflichtet. Doch es ist ein Recht, das in der Praxis wohl kein Recht ist. Artikel 24 der Konvention besagt: Kein Kind mit Behinderung darf gegen seinen Willen (oder den der Eltern) auf einer Förderschule abgeschoben werden. Das haben Hunderte von Menschen mit Behinderungen aus verschiedenen Ländern der Erde entschieden, da nur der gemeinsame, inklusive Unterricht für die Idee der Menschenrechte steht und die Achtung der menschlichen Vielfalt stärkt (Menschenrechtsbildung).

Doch es ist ein Recht, das kein Recht ist. Yassin hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf bescheinigt bekommen. Er braucht viel Assistenz und Unterstützung. Yassin sitzt im Rollstuhl. Er spricht nicht mit Worten, er spricht mit dem Körper. Sein Blick, seine Hände, seine Körperspannung, all das zeigt an, wie es Yassin gerade geht und was er vielleicht braucht. Sein Vater möchte nach der gemeinsamen Kita für ihn das Recht auf inklusive Bildung umsetzen. Er hat für Yassin eine inklusive Schwerpunktschule im Stadtteil beim Schulamt angegeben. Diese so genannte inklusive Schwerpunktschule ist auf Kinder mit körperlichen und kognitiven Behinderungen und Inklusion eingestellt. Doch der Schulplatz wird abgelehnt. Man könne Yassin dort nicht betreuen, heisst es. Der Vater meldet beim Schulamt den Wunsch einer weiteren inklusiven Schule. Die Schule hat jahrzehntelange Erfahrungen mit Kindern mit so genannter „schwerer Mehrfachbehinderung“ und inklusivem Unterricht. Beide Schulen sind berühmte Schulen im Kiez und haben Preise für inklusive Bildung gewonnen, die ihre hervorragende inklusive Arbeit auszeichnen. Beide Schulen lehnen Yassin ab. Warum ist das überhaupt möglich?

Im Schulgesetz von Berlin steht doch, dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Anspruch darauf haben eine allgemeine Schule zu besuchen, wenn sie oder ihre Erziehungsberechtigten das wünschen. Und Yassins Vater wünscht sich das sehr.

Doch im Schulgesetz von Berlin steht leider auch, dass die Schulleiter*in der allgemeinen Schule eine*n angemeldete*n Schüler*in oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf abweisen darf, wenn für eine angemessene Förderung die personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten nicht vorhanden sind. In solchen Fällen wird von der Schulbehörde ein Ausschuss eingerichtet.

Nach einigem Warten hat Yassins Vater einen Brief bekommen. Es wird von der Schulbehörde ein Ausschuss einberufen. Dort entscheiden viele wichtige Leute über Yassins Zukunft. Der Vater darf dort nochmal seinen Wunsch vortragen, mehr nicht. Nichts mit UN-Recht, nichts mit Anspruch, nichts mit Achtung der menschlichen Vielfalt. Der/die Schulleiter*in begründen in diesem Ausschuss ihre Ablehnung. Und dieser Grund ist so alt und unverändert wie nicht gewollte Inkluson als schulpolitische Riesenbaustelle nur sein kann. Der Grund ist mal wieder: es fehlt an diesem und es fehlt an jenem…und weil wir in so ein „so einem armen Land“ leben, können diese Mittel auch nicht beschafft werden – zum Beispiel eine Person, die Yassin durch die Sonde ernähren kann oder eine Liege, auf der er liegen kann. Der Vater weiß, es sind Schulen, die jahrzehntelange Erfahrung mit Inklusion haben und sie hatten schon oft Kinder, die sondiert wurden und auch mal liegen müssen. Aber Yassin scheint ein Kind zu viel zu sein.

Dass es fehlt, dass es an Ressourcen mangelt, weiss jede*r, der/die schon mal eine Schule von innen gesehen hat (sollte sie nicht frisch saniert sein). Es geht also mal wieder um die wirtschaftlichen Mittel, die nicht vorhanden sind bzw. auch nach 13 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention nicht beschafft wurden. Eine lange Zeit. Warum nach so langer Zeit noch immer nicht genug für Kinder mit Behinderungen getan wurde, damit sie zu ihrem Recht kommen, ist schwer nachzuvollziehen.

Eigentlich ist doch ein klar, was mehr wiegt, irgendein Schulgesetz irgendeines Bundeslandes (dass die UNO womöglich noch nicht einmal kennt) oder das Völkerrecht? Der Bundestag hat durch die Zustimmung zur Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention mit förmlichem Gesetz gemäß Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt und die Bundesländer haben dabei im dafür verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren im Bundesrat mitgewirkt und zugestimmt. 

Also war der Bundesrat einverstanden und mit ihn die einzelne Länder. Und dennoch läuft die Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung schleppend, teilweise rückschrittlich oder die Entwicklung stagniert. Mancherorts werden sogar neue Förderschulen gebaut, die dann auch gefüllt werden.

Weil Deutschland mit der Umsetzung so schwer vorankommt, hat der zuständige UN-Fachausschuss (CRPD) in seinen allgemeinen Bemerkungen (General Comments) 2016 konkretisiert, was es genau mit dem Recht auf inklusive Bildung auf sich hat. Denn man könnte sich anhand Yassins Situation fragen, warum es Förderschulen überhaupt noch gibt? Diese Frage stellte sich auch der UN-Fachausschuss und machte deutlich, dass das Aufrechterhalten von zwei Bildungssystemen, einem allgemeinen Bildungssystem und einem Sonderbildungssystem/auf Segregation beruhenden Bildungssystem nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention ist.

Diese Allgemeinen Bemerkungen sind übrigens nicht irgendwelche Interpretationen. Die zuständigen Ausschüsse bei den Vereinten Nationen legen einzelne Menschenrechte oder menschenrechtliche Verpflichtungen aus und machen somit deutlich, was genau die Vertragsstaaten zu tun haben.

Zurück zu Yassin. Der Ausschuss bei der Schulbehörde hat entschieden, dass weder die eine hervorragende inklusive Schule noch die andere, beide in Wohnortnähe von Yassin, das Kind aufnehmen kann und muss. Das Motto „die Hilfe muss dem Kind folgen und nicht umgekehrt“ wird mit einer Entscheidung versenkt. Die Würfel sind gefallen. Yassin soll auf das nahe gelegen Förderzentrum für „geistige Entwicklung“ gehen. Dort seien alle Mittel vorhanden. Eine andere inklusive Schule wird der Familie nicht angeboten. Das Schreiben ist anderthalb Seiten lang. Yassins Schulbiographie ist fremdbestimmt und aussortierend bevor sie überhaupt angefangen hat. 

Zwar hat der Vater auf dem Papier das Recht auf eine inklusive Beschulung, doch nutzt es ihm wenig, wenn die Schulrätin im sagt: „Entweder stimmen sie zu, dass Yassin auf die Förderschule kommt oder sie müssen selber sehen wie sie irgendeine allgemeine Schule für ihn finden.“ Dass sich angesichts der massiven Einsparungen keine Grundschule finden lässt, die ein Kind mit Schlauch aus dem Bauch und mit großem Rollstuhl jubelnd und mit offenen Armen empfängt, ist allen Beteiligten klar. Yassin ist einfach „zu schwer behindert“, als dass eine Schule bereit wäre ihn zu nehmen. Das wenige Personal wird schon woanders gebraucht und barrierearme (von barrierefreien braucht man gar nicht erst sprechen) Schulgebäude gibt es wenige in der Stadt. Doch der zuständige Jugendstaatssekretär der obersten Schulbehörde (Senatsbildungsverwaltung) verkündet stolz, dass die Inklusion in der Grundschule „vollständig umgesetzt“ sei.

Doch wie kann es sein, dass nach so vielen Jahren Kinder gegen ihren Willen eine Förderschule besuchen müssen und den Eltern unendlich viele Steine in den Weg gelegt werden? Muss der Vater nach Genf, um den Vertragsstaat  anzuklagen, weil seinem Sohn internationales Recht verwehrt wird? Kann der Vater überhaupt Anwälte suchen und bezahlen, wo er doch genug mit Yassin, seinen Therapien und Arztbesuchen zu tun hat (Widersprüche an die Kranken- und Pflegekasse muss er auch immer wieder schreiben)? Oder gehen Eltern wie Yassins Vater dann doch mit hängenden Schultern den Weg der Förderschule, weil sie keine Kapazitäten für noch einen Kampf haben?

Inklusion braucht keine Zeit, sondern den Willen sie umzusetzen. Den Ressourcenvorbehalt beim Recht auf inklusive Bildung anzuwenden, ist nach UN-Recht gar nicht zulässig, da es sich um eine Diskriminierung handelt, wenn Kinder gegen ihren Wunsch eine Förderschule besuchen müssen. Dieser Diskriminierungsschutz tritt bei Unterzeichnung von Menschenrechtsdokumenten nach der internationalen Interpretation sofort mit der Unterzeichnung in Kraft. Und bei dem Tatbestand, einem Kind aufgrund einer Behinderung den Besuch einer Regelschule zu verwehren, handelt es sich um eine knallharte Diskriminierung. Ohne wenn und aber muss diese sofort beseitigt werden – unabhängig davon, ob schon eine Liege und eine Krankenpflegekraft bereit gestellt wurden. Ein Finanzierungsvorbehalt oder Ressourcenvorbehalt wie er im Berliner Schulgesetz zu finden ist (in anderen übrigens auch) ist “gemessen am völkerrechtlichen Maßstab der UN-BRK (Artikel 24 Absätze 1 und 2 UN-BRK) unzulässig” (Monitoring-Stelle 2014, S. 32).

Es ist ein Recht, das gar kein Recht ist. Yassin bleibt nur die Förderschule. Wie soll der Vater auch eine allgemeine Schule finden, die Yassin nimmt? Soll er Bewerbungen an die Schulen schicken mit Fotos von Yassins hübschen Milchzahnlächeln und all seinen Diagnosen? Ist es die Aufgabe vom Vater eine inklusive Schule zu finden, die Yassin beschult? Er solle froh sein, dass er da überhaupt einen Platz an der Förderschule hat, meint die Schulrätin.

Angesichts der Ausstattung ist nachvollziehbar, dass die Schulen Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf nicht willkommen heissen. Sie müssen selbst um jeden Zipfel, um jede Stunde Sonderpädagogik, um jede Schulhelferstunde kämpfen und alles irgendwie so einteilen, damit schulische Inklusion als Kartenhaus nicht zusammenkracht. Die Politik könnte Ressourcen fair verteilen und sagen: Jede*r Schule bekommt genau die Hilfe, die sie benötigt: ob Krankenpflegekraft, Assistenz, Sonderpädagog*innen oder Hilfsmittel. Und wenn es diese Fachkräfte gerade nicht gibt, werden pragmatische Zwischenlösungen gefunden. Denn ist Inklusion gewollt, lassen sich Wege finden.

In den 70er Jahren besuchten die ersten Kinder mit „schweren Mehrfachbehinderungen“ in Berlin den gemeinsamen Unterricht und es musste improvisiert werden. Es waren wegweisende Berliner Schulversuche. Man war überzeugt und so wurden Lösungen gefunden -nicht optimal, doch es ging. Heute könnte man zusätzlich Förderschulen in inklusive Schulen umwandeln und frei werdende Ressourcen verteilen.

Der ehemalige UN-Sonderbotschafter für Bildung Venor Muñoz meinte: „Segregative Systeme stehen ganz allgemein der Menschenwürde entgegen“ (Muñoz 2009, S.4). Was ist mit Yassins Würde? Der Ausschuss hat sich gegen Yassins Besuch einer inklusive Schule entschieden, weil die personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten in der gewählten allgemeinen Schule nicht vorhanden sind. Das ist der Grund. Anstatt alles zu tun, um die Mittel zu beschaffen, wird Yassin wie ein hässlicher Wanderpokal weitergereicht – an die nächste Förderschule. Ein Recht, das gar kein Recht ist.

Yassin ist ein Kind, das gerne „Shaun das Schaf“ guckt, beim Duft von Rosmarin entspannt und bei lauter E-Gitarrenmusik fröhlich mit den Händen zuckt. Sein Recht auf inklusive Bildung nutzt ihm nichts.

„Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz“ (Julian Rappaport).

Lisa Reimann

©inklusionsfakten.de

Quellen:

Sven Mißling/Oliver Ückert Bildung: Schulgesetze auf dem Prüfstand. Monitoring-Stelle, Berlin 2014, S. 32.

 

Ein Kommentar

  • Willkommen in Deutschland: Hier zeigt sich mal wieder: Recht haben und Recht bekommen – es sind manchmal Welten dazwischen. Und leider hört man auch von der jetzigen Regierung nichts in bezug auf Inklusion, es wird einfach tot geschwiegen.

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