Manche Menschen glauben, dass mit der Umsetzung von Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention und mit der Einführung einer flächendeckenden inklusiven Bildungslandschaft, Schülerinnen/Schüler mit Förderbedarf die Regelschulen geradezu „überschwämmen“ würden. Die Zahlen zeigen aber etwas anderes:
Faktencheck:
“In Deutschland besuchen ca. 5 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Sonderschule -mit großen Unterschieden in den Bundesländern. Davon werden ca. 75 Prozent den Förderbereichen Lernen, Verhalten und Sprache zugeordnet. Wenn alle Jugendlichen mit “besonderem Förderbedarf” in Regelschulen gehen würden, wären bei einer Klassenfrequenz von 20 Schülerinnen und Schülern statistisch gesehen…
- in jeder Klasse ein bis zwei Jugendliche mit besonderem Förderbedarf,
- in jeder Klasse ein Jugendlicher mit Lern-, Verhaltens- oder Sprachproblemen,
- in jeder 6. Klasse ein Schüler mit geistiger Behinderung,
- in jeder 14. Klasse ein körperlich behinderter Jugendlicher,
- in jeder 62. Klasse ein sehgeschädiger Lernender”
(Jutta Schöler 2011, Berechnungen von Jutta Schöler auf der Basis von Klemm 2009).
Pro Klasse kann man durchschnittlich mit ein bis zwei Kindern/Jugendlichen mit sonderpädagogischen Förderbedarf rechnen, wenn überhaupt. In Deutschland liegt der Anteil der Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf inzwischen bei 6,6 Prozent (Förderquote, Schuljahr 2012/13, siehe: Update Inklusion – Datenreport zu den aktuellen Entwicklungen, Bertelsmann Stiftung (2014)). Von Massen kann also nicht die Rede sein. Tony Booth, der Entwickler des Index für Inklusion (ein Evaluationsinstrument für Schulen, die Schulen für alle Kinder sein wollen) sagte dazu:
“Die Leute haben die merkwürdige Vorstellung, als kämen plötzlich ganze Horden von Kindern mit ihren Rollstühlen die Straße hinuntergeschossen. Als ob die Blinden, die Lahmen und die Tauben plötzlich unsere Schulen stürmten! Dabei geht es doch bloß um ein paar Kinder. Bei den meisten würden wir den Unterschied noch nicht mal merken” (Tony Booth, Kölner Stadt-Anzeiger 2012).
Deutschlandweit gibt es über 487.700 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf (Zahlen für 2011/2012, vgl. Unesco).
“Für die einzelnen Bundesländer sind die Zahlen jedoch durchaus verschieden: Während in Rheinland-Pfalz 4,9 Prozent aller schulpflichtigen Schülerinnen und Schüler als förderbedürftig eingestuft werden, sind es in Mecklenburg-Vorpommern 10,9 Prozent” (Unesco, inklusive Bildung in Deutschland).
Aber auch in Mecklenburg-Vorpommern braucht keiner mit einer Überzahl von “förderbedürftigen” Kindern rechnen. Die unterschiedlichen Zahlen werden von Bildungsforschern vor allem mit diagnostischen Unterschieden in den Bundesländern in Verbindung gebracht.
“Derartige Befunde stützen die Hypothese, dass die Differenzen nicht in unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten bzw. Behinderungsgraden der Schülerinnen und Schüler begründet sind, sondern in verschiedenen Maßstäben bei der Diagnose von Förderbedarf” (Prof. Klaus Klemm: Inklusion in Deutschland. Eine bildungsstatistische Analyse. Im Aufrag der Bertelsmann Stiftung. 2013, S.13).
Wenn die Förderschulen aufgelöst würden, bräuchte niemand Sorge haben, dass auf einmal viele, viele Kinder mit Förderbedarf an die Schulen kämen. Prof. Klemm zeigt, wie sich die einzelnen Förderschwerpunkte verteilen. Die größte Gruppe machen Schülerinnen/Schüler mit dem Förderschwerpunkt “Lernen” aus.
“Die 487.718 Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in Deutschland verteilen sich zu 40,7 Prozent auf den Förderschwerpunkt Lernen und zu 59,3 Prozent auf die „sonstigen“ Förderschwerpunkte: 16,2 Prozent lernen im Schwerpunkt Geistige Entwicklung, 13,4 Prozent im Schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung, 11,1 Prozent im SchwerpunktSprache, 6,7 Prozent im Schwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung, 3,4 Prozent im Schwerpunkt Hören, 2,5 Prozent lernen in Förderschwerpunkte übergreifenden Arrangements, 1,5 Prozent im Schwerpunkt Sehen sowie 2,3 Prozent im Förderschwerpunkt Kranke; 2,2 Prozent schließlich können nicht zugeordnet werden” (Klaus Klemm, 2013, S.12).
Auch wenn sich 40,7 Prozent Förderschwerpunkt Lernen viel anhört, so werden bei einem flächendeckend inklusiven Schulsystem insgesamt nur sehr wenige der Kinder mit dem Förderschwerpunkt “Lernen” an einer Schule sein. Vorausgesetzt man verteilt die Schülerinnen und Schülern an den wohnortnahen Schulen und in unterschiedlichen Klassen. Zudem wird das Konstrukt “Lernbehinderung” (eine deutsche Kategorie) als höchst fragwürdig angesehen und in einigen Bundesländern auch vorsichtiger diagnostiziert (siehe: Gegenargumente zu der Aussage “Die Förderschule für Lernebhinderte ist sinnvoll”).
Auch die Sonderpädagogin Prof. Dr. Saskia Schuppener zeigt, dass eben keine Massen von Kindern mit Förderbedarf an die inklusiven Schulen kommen werden (siehe auch: didacta-bildungsklick TV. Auf die Sonderschule als Institution verzichten. Interview mit der Sonderpädagogin Prof. Dr. Saskia Schuppener, 2012). Wichtig bleibt, so Saskia Schuppener, bei allen Zahlen die Qualität des Vorhabens Inklusion. Saskia Schuppener spricht sich für die inklusive Schule aus, betont dabei aber die Wichtigkeit von sonderpädagogischem Know-How, von dem die allgemeinen Schulen profitieren können. Sie meint, wir können ALLE Kinder in die allgemeine Schule mitnehmen und betont, dass Inklusion kein Zusatz sein darf, „sondern vom Grundansatz her eigentlich eine Unterstützung, eine offenere Haltung auch gegenüber der Schülerschaft, die ja ohnehin schon sehr heterogen ist und der man sich einfach jetzt stellt“ (Saskia Schuppener bei didacta-bildungsklick TV, 2012).
Für Kinder mit Sinnesbeeinträchtigungen (eine sehr kleine Gruppe von Schülerinnen/Schülern insgesamt) plädiert Saskia Schuppener für so genannte Schwerpunktschulen, die auf die Förderschwerpunkte „Sehen“ und „Hören“ eingestellt sind (Raumausstattung usw.). Saskia Schuppener ist der Ansicht, dass wir auf die Sonderschule als Schulzweig gänzlich verzichten können und setzt sich so für den Paradigmenwechsel ein, den die UN-Behindertenrechtskonvention beabsichtigt (vgl. didacta-bildungsklick, 2012).
“Zudem erweist sich der Besuch einer Sonderschulen weiterhin für die deutliche Mehrheit der Schüler als Sackgasse: Nach wie vor verlassen fast drei Viertel (72,6 Prozent) von ihnen die Förderschulen ohne Hauptschulabschluss. Für diese Jugendlichen ohne Schulabschluss ist die gesellschaftliche Teilhabe besonders in Gefahr” (Dr. Jörg Dräger/Ulrich Kober 2014, S4).
Quellen:
Bertelsmann Stiftung: Update Inklusion – Datenreport zu den aktuellen Entwicklungen, Bertelsmann Stiftung. Gütersloh: 2014.
Booth, Tony: „Es ist Zeit für eine Reform“. In: Kölner Stadt-Anzeiger. 30.9.2012. Online im Internet: http://www.ksta.de/kultur/schulform-diskussion–es-ist-zeit-fuer-eine-reform-,15189520,19926114.html.
Dräger, Jörg/Kober, Ulrich: Update Inklusion – Datenreport zu den aktuellen Entwicklungen, Bertelsmann Stiftung. Gütersloh: 2014.
Klemm, Klaus: Inklusion in Deutschland. Eine bildungsstatistische Analyse. Im Aufrag der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh: 2013.
Schöler, Jutta: Raum für alle – Räume in der inklusiven Schule gestalten. In: Auf dem Weg zur Inklusion – Praxisbegleiter für die Schulleitung. Stuttgart: Raabe 2011 (IIA 1., Grundwerk).
Ein Kommentar
Hört sich gut an,ist aber leider noch nicht die Realität.An der Grundschule,die unser Sohn besucht hat,hat das wunderbar funktioniert.Die Lehrer hatten Interesse an jedem Kind.In der Sekundarschule erlebt zur Zeit unser Sohn die Hölle.Gerade in den Hauptfächern wird voll durchgezogen.Ohne Nachhilfe am Nachmittag oder Wochenende ist das Ziel nicht oder nur schwer zu schaffen.Unser Famiilienleben dreht sich nur noch um Schule.