Hallo Schule – Tschüss Arbeit

Nina (Name geändert) ist fast sieben und geht in die erste Klasse einer inklusiven Schwerpunktschule. Burak (Name geändert) ist sechs und ist ebenfalls Schulanfänger an der inklusiven Grundschule vor Ort. Beide Kinder freuen sich auf die Schule, die anderen Kinder, die ersten Buchstaben und Zahlen und den Hort mit seinen Angeboten. Beide Kinder haben einen Förderbedarf und zusätzlich einen Pflegebedarf. Doch was in der Kita noch halbwegs funktionierte, läuft in der Schule gar nicht mehr. Das hat Auswirkungen auf die ganze Familie. Beide Mütter konnten mit Schuleintritt ihren Job an den Nagel hängen: “Hallo Schule – Tschüss Arbeit.”

Mit Ninas Schule wurde in Vorhinein, lange vor der Einschulung, alles geklärt. Ein enger Austausch, auch mit der Kita, fand statt. Berichte und Akten wurden weitergereicht, es wurden Gespräche geführt und doch war nach dem ersten Schultag alles anders als geplant. Trotz aller Informationen war es für die Schule dann doch eine große Überraschung, dass Nina bei Bedarf katheteresiert werden muss. Nina ist Rollstuhlfahrerin und die Blase entleert sich nicht von alleine. Wenn die Blase drückt, muss sie mit einem Katheter entleert werden. Wird die Blase nicht entleert, drohen Entzündnungen und Erkrankungen. Es gibt auch keinen Rythmus wie “alle vier Stunden”. Das Katheteresieren kann also nicht terminiert werden. Es muss immer jemand da sein, der/die bei Bedarf Katheterisieren kann und darf. Bei Schuleintritt erst, stellt die Schule fest: “Wir können das nicht und wir dürfen das nicht. Wir sind ja gar nicht zuständig.” Die Krankenkasse ist zuständig. Doch die Krankenkasse fühlt sich nicht wirklich zuständig. Niemand ist bereit Ninas Blase zu entleeren. Die einzige Lösung für Nina ist, dass sich die Mutter auf Abruf in der Nähe der Schule aufhält. Sollte die Blase voll sein, wird die Mutter angerufen und kann zu Nina kommen und das Katheteresieren übernehmen. Das Kind auf eine der wenigen Förderschulen zu geben, die über eine eigene Schulkrankenschwester verfügt und am anderen Ende der Stadt liegt, stellt für die Familie keine Lösung dar. Die Eltern möchten das Recht ihres Kindes auf inklusive Beschulung verwirklichen. Es soll mit der großen Schwester und den Nachbarskindern auf die Schule vor Ort gehen dürfen. Doch das Recht auf Inklusion einzulösen, hat Konsequenzen. Diese Konsequenzen trägt nicht etwa der Staat, wie in der UN-Behindertenrechtskonvention, zu der Deutschland sich verpflichtet hat, festgelegt, sondern viel zu oft die Eltern. Die Mutter muss ihren Job kündigen (bei dem sie übrigens nicht unerhebliche Karrierechancen gehabt hätte) und darf den Vormittag (und Mittag) auf Abruf nahe der Schule verbringen.

Burak hat Diabetes. Zur Mittagszeit braucht er jemanden, der die Inuslingabe übernimmt und die Kohlenhydrate im Essen berechnet. Die Sonderpädagogik-Verordnung seines Bundeslandes hat zwar festgelegt, dass Schulhelfer*innen diese Maßnahme der Behandlungspflege übernehmen dürfen, wenn sie an einer entsprechenden Schulung teilgenommen haben. Doch auch bei Burak kam mit dem Schuleintritt alles anders als geplant. Seine Schulhelferin kommt zwei Mal die Woche in den ersten Stunden. Zum Mittagessen, wenn er ihre Hilfe braucht, ist sie nicht mehr da. Die Schule meint, es gäbe keine anderen Schulhelfer*innenstunden für Burak, außerdem sei die Krankenkasse zuständig. Da die Mutter auf keinen Fall ihren Beruf aufgeben möchte, sie ist alleinerziehend und nicht unbedingt scharf auf Harz IV, telefoniert sie mit der Krankenkasse. Sie solle sich einen Pflegedienst suchen, wurde ihr gesagt. Die Mutter telefoniert 80 Pflegedienste ab. Alle lehnen ab. Es gibt zu Zeiten des Fachkräftemangels tatsächlich lukrativere Aufträge als zu einer Schue zu fahren, über einen großen Schulhof zu laufen, die Mensa zu suchen oder wo sich das Kind gerade aufhält, um dann eine einzige Leistung auszuführen. Viel zu viel Aufwand für nur eine Leistung. Da lohnt sich die Rentnerin mit angehender Demenz viel mehr. Ein Besuch und viele Leistungen (Thrombosestrümpfe anziehen, Pillen rauslegen, Blutdruck messen usw.). Und von dieser Personengruppe gibt es mehr als genug. Ohne lange Wege. Für den Preis? Nein. Kein Pflegedienst übernimmt die Versorgung von Burak in der Mittagszeit.

Ninas Eltern sind verzweifelt. Und sie sind nicht alleine. Früher! – das waren andere Zeiten. Da übernahmen pädagogische Fachkräfte auch das Kathteteresieren – auch ohne pflegerische Ausbilldug. Haben die Eltern ja auch nicht und machen es jeden Tag. Das ist heute anders. Heute muss eine Pflegefachkraft das Katheteresieren übernehemen. Jemand, der/die das richtig gelernt hat und das Kind nicht verletzen kann. Das Problem ist nur: wer macht das? Wer stellt sicher, dass Nina gleichberechtigt mit ihren nichtbehinderten Mitschüler*innen die Grundschule besuchen kann? Die zuständige Schulbehörde der Stadt schiebt die Verantwortung weiter. Die Krankenkasse ist zuständig. Auch Ninas Eltern telefonieren abwechseln 120 Pflegedienste ab. “Was? Katheteresieren auf Abruf? Wie soll das gehen? Da müsste ja eine Krankenpflegefachkraft die ganze Zeit in der Schule sein. Finanziert wird aber nur die Leistung. Das geht nicht.

Ninas Recht auf Bildung und die Sicherstellung ihrer Gesundheit stehen auf wackeligen Beinen. Anstatt als Schulbehörde schnell nach Lösungen zu suchen, um die Arbeitslosigkeit der Mutter zu verhindern, wird das Problem auf die lange Bank geschoben. Die Krankenkasse zahlt nur das Katheteresieren, doch kein Pflegedienst kann auf Abruf immer in der Nähe der Schule sein. Die Schulverwaltung zuckt mit den Achseln (bzw. da wäre ja noch diese eine Förderschule mit Schulkrankenschwester…). Dann findet sich doch noch ein spezialisierter Pflegedienst, der Nina versorgen würde, kostet aber 50 Euro mehr. “Mehrkosten? Gibt es nicht bei der Krankenkasse. Können Sie selber zahlen” “Hallo Schule – Tschüss Job.”

Jeden Tag um die Mittagszeit machst sich Buraks Mutter auf den Weg zur Schule. Sie erreicht die Mensa, drückt Burak einen Kuss auf die Wange, berechnet die Kohlenhydrate, stellt das Inuslin ein und geht wieder. Arbeiten gehen kann sie so nicht. Auch sie hat endlich einen Pflegedienst gefunden, der Buraks Versorgung übernehmen würde, kostet aber mehr. “Mehrkosten? Gibt es nicht bei der Krankenkasse, kann ja die Mutter privat dazu sponsern.” “Hallo Schule – Tschüss Job.”

Und die Schulverwaltung guckt zu wie Eltern arbeitslos werden und fühlt sich nicht zuständig. Es gäbe ja Lösungen. In anderen Ländern hat jede Schule eine eigene Krankenschwester/Krankenpfleger. Bedenkt man den Anstieg von Kindern mit Diabetes Typ 1 wäre das keine schlechte Idee, zumal diese Krankenpflegefachkraft nicht nur die Schürfwunde auf dem Schulhof verarzten könnte und damit das pädagogische Personal entlastet, sie könnte auch wichtige Aufgaben der Gesundheitsprävention (Ernährungsbildung, Bewegung, Sicherheit, Infektionsschutz) usw. übernehmen. Gibt es Kinder mit ärztlichen Rezept für eine Behandlungspflege, wäre sie/er an Ort und Stelle. Die Schulverwaltung könnte auch sagen:

Wie bitte? Das Recht ihres Kindes auf gleichberechtigte Teilhabe am inklusiven Unterricht ist gefährdet. Wir haben uns zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Kündigen Sie auf keinen Fall Ihren Job. Nächste Woche haben wir einen Plegedienst für das Kind gefunden. Wir übernehmen alle Kosten erstmal und streiten uns im Nachhinein mit der Krankenkasse. Damit haben Sie aber nichts zu tun.

Doch so läuft es nicht. Doch so sollte es laufen. Wie sich die Eltern fühlen, die durch die Schulpflicht ihrer Kinder in die Arbeitslosigkeit geschickt werden, kann man sich ungefähr vorstellen. Und wie fühlen sich eigentlich Burak und Nina, die von allen als “Störfaktor”, als “Kostenträger” gesehen werden (“Bin ich Schuld, dass Mama nicht arbeiten kann?“). Burak und Nina spüren die große Unsicherheit um sie herum. Auch dieses Gefühl unterscheidet sie von ihren Mitschüler*innen. Das darf so nicht sein. Lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass Kinder zu ihrem Recht kommen, dass Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt und alle angemessenen Vorkehrungen, die eine gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen, getroffen werden. Nicht morgen, nicht übermorgen, sondern jetzt.

Hier geht es zur Petition für das Land Berlin: Petition auf Change.org.

Wir haben bald Wahlen, bitte sprecht/schreibt euren Kandidat*innen im Wahlkreis und erzält ihr/ihm die Missstände in der Umsetzung von Art. 24.

 

 

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