Joscha ist einer der letzten, die aufgerufen werden. Er sitzt mit wenigen anderen auf dem grauen Sporthallenboden, während der Rest der Klasse schon als Grüppchen im aufgerufenen Team steht. Die zwei Teams blicken auf die sitzenden Kinder herab. Joscha schaut auf den Boden, spürt jedoch die Blicke der anderen Kinder. Er drückt die Daumen fest zusammen und hofft doch nicht ganz der letzte zu sein. Scham und ein Gefühl der Einsamkeit durchfahren ihn. Er möchte jetzt gar nicht da sein. Er möchte gerne jemand anderes sein. Jemand, der gut werfen kann, groß ist und mit vielen Muskeln. Jemand, dessen Name gleich als erstes fällt. Joscha weiß, das Schamgefühl wird bald noch schlimmer werden.
Joscha beißt sich auf die Lippen. Er kann nicht gut werfen, das weiß er. Mama sagt: „Du kannst vielleicht NOCH nicht so gut werfen. Ich kann es auch nicht. Oma auch nicht. Doch wer darf beurteilen, was weit werfen ist?“ Dann erzählt Mama von Mareile, einer ehemaligen Klassenkameradin, die im Sport immer erste war. “Kann ich ja nichts dafür, dass meine Beine kürzer und Mareiles super lang sind. Klar, ist sie dadurch schneller und springt höher. Sport in der Schule ist meistens ungerecht:” Das hilft ihm jetzt wenig.
Das Team steht in der Reihe und die Kinder müssen ein Hütchen abwerfen. Joscha ist dran. Alles verkrampft sich in ihm. Der Bauch tut plötzlich weh. Er nimmt den kleinen Ball und wirft. Der Ball landet einen halben Meter vor ihm. Die Kinder lachen. Merkt der Lehrer das? Joscha möchte weinen, schluckt die Trauer hinunter.
In der Kita haben sie nie solche Spiele gespielt. Spiele, bei denen man gewinnen soll und schneller, besser, stärker als andere sein soll. In der Kita gibt es Annika und Simone. Die Erzieherinnen hätten es nie zu gelassen, dass ein Kind ausgelacht wird. Sie hätten nie auswählen lassen, so dass immer die gleichen Kinder übrig bleiben und sich schlecht fühlen müssen. Joscha denkt an Simone, seine Lieblingserzieherin. Simone ist warm und riecht nach Vanille. Ihre Hände sind sanft und streicheln sein Gesicht.
Doch Simone ist nicht da. Mama auch nicht. Joscha ist vor drei Monaten in die erste Klasse gekommen. Er hat einen Förderbedarf im Bereich körperliche und motorische Entwicklung. Zusätzlich hatte er lange Long Covid und noch Monate nach der Infektion schlechte Werte beim Lungenfunktionstest. Jetzt geht es ihm körperlich gut, doch die Scham über den Ausschluss, das Gefühl nicht dazu zu gehören, für die Niederlage des Teams verantwortlich zu sein, das Gefühl der Einsamkeit wirken stark.
Wer hat es nicht selber schon erlebt, diese Situation in Sportunterricht? Es mag 20, 30, 40 Jahre her sein und trotzdem sind da hinter den Augen vielleicht heute noch Tränen. Die Situation ist plötzlich ganz nah und bedrohlich.
Eigentlich wäre zu erwarten, dass solche Auswahlverfahren und Spiele nichts im Sportunterricht verloren haben. Erst recht nicht in einer Grundschule. Erst recht nicht in einer ersten Klasse. Der Sportlehrer ist ein Quereinsteiger und studiert parallel auf Lehramt. Der Lehrkräftemangel macht es nicht anders möglich.
Ein Kommentar
Früher war ich klein und dick- und wurde beim Sport auch immer zuletzt gewählt!
Sprossenwände, Seile, Barren und Reck waren auch Quälkram!
Solange wir im Sport den Wettkampf aufrechterhalten und nur durch intensives Grüppchenbilden je nach Behinderung individualisieren, wird das nichts mit Inklusion in D!
Hoffentlich tut sich mal was an der Trans-Front: Frau ist Frau- und wenn die erste Transfrau unbehelligt Weltmeisterin bei Sportart X oder Y wird, ohne dass sie von den „echten Frauen“ verklagt wird, kommen wir da weiter: vllt versteht dann auch der letzte mal endlich, was Inklusion ist!
Verbietet endlich mal diese schulische Wettkämpfe- dann seid ihr Sportler den Ärger doch los!