„Im Lande verkehrt“ oder von der Tradition des Aussortierens

Wenn ich mich an meine Grundschulzeit zurück erinnere, dann waren das überwiegend schöne Erinnerungen. Ich besuchte, ohne dass mir das damals bewusst war, die erste staatliche Integrationsschule im deutschsprachigen Raum, die Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam unterrichtete – die Fläming-Grundschule in Berlin. Behinderungen spielten in meiner Grundschulzeit keine Rolle. „Behinderungen“ waren im Weg stehende Kinder beim Tischtennis. Wenn ein Kind ungünstig rum stand, wenn man einen Ball annehmen wollte und dies nicht gelang, rief man: „Behinderung“. Das war alles. Erik war Erik. Jana war Jana. Raul war Raul. Lisa war Lisa. Dass etwas Entscheidendes in diesem Land verkehrt läuft, nämlich die Trennung von Kindern aufgrund einer Behinderung, habe ich erst später erfahren.

An etwas erinnere ich mich aus meiner Grundschulzeit besonders gerne: an mein Gedichtheft. Immer mal wieder mussten wir Gedichte auswendig lernen. Diese Gedichte wurden ins Gedichtheft kopiert und wir Kinder malten Bilder dazu. Viele Gedichte kann ich heute noch – meistens die lustigen, bei denen Meerschweinchen Bier trinken oder ein Doktor nach einem Floh sucht oder eben jenes berühmte mit dem netten Mann und den saftigen Birnen. Ein Gedicht habe ich vergessen – und das ist gut so. Das Gedicht heißt „im Lande verkehrt“. Ich erinnere mich an das Bild, das ich zum Gedicht gemalt habe – es war ein lustiges Gedicht und es wurde ein lustiges Bild – ein Bild mit Schnee im Juli und Briefträgern, die auf Händen gehen und fliegenden Autos (Wild, Edmund: 66-mal selber dichten-frei nach Busch, Brecht und Co. Grundschule. Buxtehude: Persen, 2008, S.73).

Ich bin nicht traurig, dass ich dieses Gedicht nicht mehr auswendig kann. Denn das Gedicht „im Lande verkehrt“ ist von Hans Baumann, einem bekennenden Nationalsozialisten, der sowohl in der HJ-Führung aktiv war als auch als SS-Anwärter. Sollte ein Gedichtsautor, der Lieder für die Hitler-Jugend und den Bund Deutscher Mädel schrieb und komponierte und den Satz „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ (siehe hier) singen ließ, in Schulbüchern vorkommen? Er ist heute mit seinen Gedichten in Schulbüchern zu finden und war als Autor von Jugendbüchern nach dem Krieg recht erfolgreich. Das Gedicht „Im Lande verkehrt“ ist in diversen Deutschbüchern, Büchern mit Kindergedichten oder Kinderliederbüchern zu finden – zwischen Erich Kästner und Christian Morgenstern. Das kann man daneben finden, es kann einem egal sein oder man findet, dass der Mann ja später nichts Nationalsozialistisches mehr verfasst habe und seine Kindergedichte harmlos sind. Zahlreiche seiner Schriften landeten in der DDR auf der Liste der auszusondernden Literatur. Wie viele erklärte Baumann seine Texte damit, dass er eben jung und unwissend gewesen sein und Hitler „für einen berufenen Mann hielt“ (Baumann 1956).

Ich bin jedenfalls nicht scharf darauf, mehr von Baumann zu lesen, auch wenn er später nicht mehr Sätze wie „Dies Land bleibt deutsch, dies Land bleibt deutsch. Denn wir halten die Wacht, denn wir halten die Wacht“ geschrieben hat und sich als Verführter gesehen hat.

zwei Männer ©Inklusionsfakten

„Das ist wahrhaftig im Lande verkehrt“

Als Kind habe ich ein Gedicht von einem Mann auswendig gelernt, der mit dem inklusiven Treiben meiner Grundschulzeit wohl nicht einverstanden gewesen wäre. Denn Nationalsozialisten, noch dazu solche, die gleich 1933 in die NSDAP eintraten, hielten nichts von der Idee, die wir heute Inklusion nennen – eine demokratische Aufgabe, mit dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen, unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Religion/Weltanschauung, ihrer Hautfarbe, ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten, ihrer sexuellen Identität usw.. Eine Idee, die Antidiskriminierung voraussetzt und Chancengleichheit auf allen Ebenen realisiert, war wohl das Letzte, was Hans Baumann im Kopf rumgeisterte als er sich auf einen Vortrag für das von Goebbels organisierten Weimarer Dichtertreffen vorbereitete.

Nationalsozialisten hatten andere Ideen. Eine davon ist bis heute noch viel zu wenig bekannt, nämlich die grausame und in die Tat umgesetzte Idee, Menschen mit Behinderungen umzubringen. Ca. 200.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung sind während des Nationalsozialismus als „lebensunwert“ bezeichnet und ermordet worden, weil sie den rassenhygienischen Vorstellungen der Nationalsozialisten nicht entsprachen.

Bei der so genannten „T4-Aktion“ überprüften Nationalsozialisten, aber auch Tätige in Pflegeberufen, 1940 bis 1941 „Anstalten“ und Familien auf die Suche nach „lebensunwerten Leben“. Menschen mit Behinderungen wurden aus den „Anstalten“ oder ihren Familien geholt, um sie in so genannten „Euthanasie“-Tötungsanstalten systematisch umzubringen, zwangszusterilisieren oder sie für grausame Experimente zu missbrauchen. Auch viele Kinder wurden ermordet („Kindereuthanasie“). Die Bezeichnung „T4-Aktion“ bezieht sich auf die Zentraldienststelle T4 in der damaligen Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte, der Organisation, in der die Ermordung behinderter Menschen angeordnet wurde.

Es gab kaum Widerstand gegen die Verschleppung und Ermordung von Menschen mit Behinderungen (siehe hier). 1940 wandten sich Vertreter der Deutschen Evangelischen Kirche mit einem Protestschreiben an die Reichskanzlei. Verfasser dieses Schreibens war Pastor Paul Gerhard Braune, der eine „Anstalt“ leitete und im selben Jahr in einem Gestapo-Gefängnis in Schutzhaft genommen wurde (siehe hier). Auch der katholische Bischof von Münster Clemens August Graf von Galen bezeichnete 1941 in einer Predigt die Tötung von Menschen mit Behinderungen als Mord (siehe hier). Die kirchlichen Proteste führten dazu, dass die „T4-Aktion“ nach 1942 nicht mehr zentral, sondern dezentral fortgeführt wurde. Der Begriff „Euthanasie“ bzw. „Gnadentod“ wurde übrigens verwendet, um die organisierten Massenmorde zu verschleiern.

Was Hans Baumann dazu dachte ist nicht bekannt. Was ich dazu denke ist, dass das Gedicht „Im Lande verkehrt“ vor diesem Hintergrund nicht zu meiner Grundschulzeit passte. Was aber noch viel verkehrter ist als ein harmloses Gedicht eines weniger harmlosen ehemaligen Liedertexters für die HJ und der Reichsjugendführung, ist, dass sich zu wenig getan hat. Es ist einfach zu wenig passiert, um Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt teilhaben zu lassen.

Es ist einfach zu wenig passiert

Die ersten so genannten Hilfsschulen für „Schwache“ und „Stumpfsinnige“ entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts, mit dem Ziel die überfüllten Volksschulen zu entlasten (Heinrich Ernst Stötzner, 1864). Das Aussortieren wurde fortgesetzt und führte im Nationalsozialismus zur organsierten Ermordung behinderter Kinder. Nach dem Nationalsozialismus kam man leider nicht auf die Idee, dass die gemeinsame Bildung und Erziehung zum Abbau von Vorurteilen, zu mehr Akzeptanz und zu einem selbstverständlicheren Miteinander unterschiedlicher Menschen beitragen kann. Im Gegenteil:

Nach der vernichtenden Praxis des Nationalsozialismus wurde in Ost wie in West ein breites Fördersystem für Kinder und Jugendliche mit Behinderung aufgebaut – ein System, das mit relativ guten Ressourcen ausgestattet wurde, um die Eingliederung von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Nicht bedacht wurde allerdings, was es bedeutet, dass die Eingliederung ausgerechnet auf dem Weg der Aussonderung, der Bildung und Erziehung von Kindern in Sondereinrichtungen gelingen sollte – ein Vorhaben, das eigentlich eine Quadratur des Kreises ist. Ausgerechnet die Förderung in getrennten Lebenswelten sollte für die gesellschaftliche Eingliederung sorgen“ (Maria Kron 2006, S.6. Gemeinsame Bildung und Erziehung aller Kinder – verschiedene Wege in Europa).

Und heute?

Seit gut nun 6 Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Aber schon Anfang der 70er Jahre kämpften vor allem Eltern von Kindern mit Behinderungen für den Gemeinsamen Unterricht. Als erste Schule unternahm die Fläming-Grundschule in Berlin den Schulversuch und führte so genannte Integrationsklassen ein. Das war die Schule, die ich besuchte und dazu führte, dass…ja wie gesagt, dass Erik eben Erik war, Jana Jana und Raul Raul. Verkehrt war das für mich nicht. Ich wusste schlicht nicht, dass es Kinder mit Behinderungen gab, die nicht selbstverständlich mit nichtbehinderte in eine Schule gingen.

Einklagbar war der Besuch einer allgemeinen Schule damals nicht. Ein Kind mit Behinderungen landete unweigerlich in einer Sonderschule. Damals sprach keiner vom Elternwillen – ein Argument, was kurioser Weise heute als Legitimation für die Beibehaltung von Förderschule gerne verwendet wird. Aus der UN-Behindertenrechtkonvention, die Deutschland 2009 ratifizierte, kann heute keine dauerhafte Aufrechterhaltung von Sonderstrukturen (und ein damit einhergehendes Wahlrecht) abgeleitet werden.

Die Widerstände waren in den 70er, 80er und 90er Jahre enorm und sind es teilweise auch noch heute. Eltern, die die Integration ihrer Kinder wollten, mussten sich rechtfertigen und einen Schulplatz an einer allgemeinen Schule sogar einklagen. Dagegen hat kaum jemand protestiert. Die Verantwortlichen fanden es offensichtlich völlig richtig, dass ein Kind aufgrund einer Behinderung eine eigens dafür geschaffene Schule zu besuchen hat. Mitverantwortlich dafür war auch die Lobby der Sonderpädagogik. Diverse Vertreter/innen der Sonderpädagogik waren der Ansicht, dass ein Kind mit Behinderung oder Förderbedarf, wie es später hieß, am besten in einer Sonderschule gefördert werden könne. Wissenschaftliche Untersuchungen, die diese Behauptung stützten, existieren bis heute nicht.

Zu sagen, man wusste es damals nicht besser, ist angesichts der Ergebnisse der ersten Studien zum Erfolg vom Gemeinsamen Unterricht, unstatthaft. Denn auch nachdem die Nachteile und schädlichen Nebenwirkungen von Förderschülern an Förderschulen durch Studien belegt wurden, ändert sich kaum etwas. Die vielen Studien, die im Laufe der Jahre entstanden, konnten nicht dazu beitragen, dass sich ein schulpolitischer und struktureller Wandel vollzog (hier geht’s zu den Studien).

Wenn es nach der Wissenschaft ginge, müsste die Förderschule von heute auf morgen geschlossen werden„ (Hans Wocken).

Bis 2009 verlief der Ausbau des Gemeinsamen Unterrichts zäh. Rückenwind gab es dann durch die UN-Behindertenrechtkonvention. Der Vertragsstaat ist damit die völkerrechtliche Verpflichtung eingegangen, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen.

Und? Tut er das? Nein – immer noch „im Lande verkehrt“

Die lange Tradition des Aussortierens und der Sondereinrichtungen ist noch in vielen Köpfen. Das verhindert den dringenden Transformationsprozess hin zu einem inklusiven Schulsystem. Der politische Wille ist nicht spürbar. Keines der Bundesländer erfüllt alle im Recht auf inklusive Bildung angelegten Kriterien. Das stellte die Monitoring-Stelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte in ihrer Studie fest. Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD-Ausschuss) prüfte im Frühjahr 2015 den Vertragsstaat Deutschland, eine Hausaufgabenkontrolle sozusagen. Die Mitglieder des UN-Fachausschusses sagen: „Es gibt große Sorgen zur Implementierung des Artikels 24 in ihrem Land“ und „Es scheint, dass prioritär in Förderschulen investiert wird – zu Lasten der inklusiven Bildung.“ In den Abschließenden Bemerkungen schreibt der Ausschuss, dass er besorgt darüber ist, „dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in dem Bildungssystem des Vertragsstaats segregierte Förderschulen besucht“ (S.8). Er empfiehlt dem Vertragsstaat Deutschland „umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan, einen Zeitplan und Zielvorgaben zu entwickeln, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem herzustellen, einschließlich der notwendigen Finanzmittel und des erforderlichen Personals auf allen Ebenen“ (S.8 Abschließende Bemerkungen).

Deutschland hinkt der Umsetzung hinterher. Aus allen Bundesländern gibt es Klagen, weil Sonderpädagogen fehlen, weil Fahrdienste, Integrationshelferstunden oder wichtige Umbauten nicht bewilligt oder finanziert werden. Die Bildungsausgaben sind zu gering, Deutschland belegt im Vergleich mit den OECD-Staaten immer wieder die hinteren Plätze. Dabei kann Inklusion dauerhaft viele Folgekosten verhindern, wenn man bedenkt, dass die meisten Kinder an Förderschule keinen Schulabschluss erwerben, da sie sich den niedrigen Sonderschulniveau anpassen und so ihre Chancen auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz sinken. Der Großteil der Förderschüler/innen sind Kinder mit dem Förderbedarf Lernen, den vor allem Kinder aus kinderreichen Familien, aus Familien nicht deutscher Herkunft, aus Familien, die Harz IV beziehen oder aus Roma-Familien verpasst bekommen. Manche nennen diesen Förderbedarf auch „Armutsbehinderung“.

Fakt ist, dass die Bildungschancen von Kindern mit Behinderungen steigen, wenn sie eine allgemeine, inklusive Schule besuchen. Da man sich durch die Etikettierung von Kindern durch das Label „Förderbedarf“ zusätzliche Lehrerstunden sichern kann, und die Lehrer/innen aus dem letzten Loch pfeifen, die Bedingungen vielerorts schlecht sind, wird dieses Instrument (aus)genutzt. So steigt die Zahl der Inklusionskinder im Gemeinsamen Unterricht. Doch die Zahl der Kinder an den Förderschulen nimmt nicht ab. Es werden einfach Kinder, die früher so mitliefen als „förderbedürftig“ eingestuft. In diese Land läuft wirklich etwas verkehrt (siehe auch hier).

Und nun? Tradition beenden!

Wenn Schulen die Gesellschaft widerspiegeln sollen, dann muss dieses Aussortieren aufhören. „Eine Schule ohne Kinder mit besonderem Förderbedarf ist keine ´normale` Schule“ (Jutta Schöler). Die Ressourcen müssen in ein inklusives System fließen. Dafür müssen Förderschulen eben auch geschlossen werden. Eine inklusive Gesellschaft ist ohne ein inklusives Bildungssystem nicht möglich. Trennende Systeme schaffen trennende Vorstellungen. Und das ist gefährlich.

Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht“ (Theodor Adorno 1966).

Adorno ©Inklusionsfakten

Zum Weiterlesen:
Zeit Online: Hüben und drübenHans Baumann (von Marcel) 1962: http://www.zeit.de/1962/10/hans-baumann

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