Geht es um das Herzblutthema Bildung, dann reden wir alle gerne mit. Schließlich widmet sich die Schule den Zukunftschancen unserer Kinder. Und schließlich ist ja auch jeder oder jede irgendwie Experte: waren wir doch alle mal in der Schule und haben einen Eindruck davon bekommen wie es läuft oder nicht laufen sollte. Sprengstoff für Bildungsdebatten bringt derzeit auch das Thema Inklusion. Heiß diskutiert wird die Aufgabe inklusive Bildung und nicht selten als nicht umsetzbare (jedenfalls noch nicht), zusätzliche und nervige Aufgabe beschrieben.
Dass Kinder mit und ohne Behinderung hervorragen gemeinsam lernen können und dabei noch Werte wie Rücksichtnahme, Akzeptanz und Gleichberechtigung verinnerlicht werden, leuchtet nicht jedermann/jederfrau ein. Aussagen wie „Behinderte Kinder in der Klasse meines Kindes? Halten die nicht die anderen vom Lernen ab?“ über „die brauchen doch den Schonraum Förderschule“ bis hin zu „Inklusion ist Sozialromantik, eine Falle, eine Illusion“ schmücken die Debatte um das Recht auf inklusive Bildung. Denn eins muss klar sein und wird doch oftmals ignoriert: inklusive Bildung ist ein Menschenrecht. Es geht nicht um Geschmäcker, Vorlieben oder Ansichten. Es geht darum, dass Deutschland sich mit der 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet hat, Kindern mit Behinderungen den Unterricht an einer allgemeinen Schule zu ermöglichen. Und das ist kein böser UNO-Zwang, keine sozialromantische Utopie, keine neue schwachsinnige Idee im Bildungswesen, sondern ein völlig natürlicher und konsequenter Vorgang für eine demokratische Gesellschaft, wie wir sie gerne sein wollen (in einer Diktatur trennt man gerne Menschen unterschiedlicher Merkmale, doch das hatte wir ja schon und das kann keiner ernsthaft zurück wollen).
Das Thema Inklusion wird derzeit so hitzig diskutiert, dass man meinen könnte, es handle sich um ein Verbrechen sich für ein Recht einzusetzen. Das Schlagwort „Kindeswohlgefährdung“ fällt nicht selten – und damit sind seltsamerweise nicht Förderschulen gemeint. Der Hintergrund von Menschenrechten ist jedoch nicht, dass jemanden etwas genommen wird, sondern dass alle etwas dazu gewinnen. Gleichberechtigung, Antidiskriminierung und Chancengleichheit – Bildungsziele, die oft augenrollend als hohle Wortphrasen beiseite gewischt werden, ohne deren tatsächlichen Kern für unser Bildungssystem und unsere gesamte Gesellschaft zu erörtern.
Warum sollte es einen Supermarkt nur für Menschen mit Mittelscheitel geben? Damit sie unter ihresgleichen besser einkaufen können? Damit sie sich über Mittelscheitel austauschen können und von Menschen ohne Scheitel oder Seitenscheitel nicht gemobbt werden?
Die Trennung von Kindern aufgrund eines Merkmals ist nicht nur absurd, sondern auch schädlich. Denn die tatsächliche Gefährdung findet im Förderschulsystem statt, wenn man einem Duzend Studien und Wissenschaftlern*innen Glauben schenken mag. Dazu gleich mehr.
Die Trennung nach Merkmalen ist künstlich konstruiert. In einer vielfältigen Gesellschaft, wie wir sie haben, kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen. Wir kommen mit Merkmalen auf die Welt, die uns von anderen unterscheiden. Manche Unterschiede werden in unserer Gesellschaft höher bewertet als andere. Das führt zu Vorurteilen, Ausgrenzung und schließlich zu getrennten Systemen. Gerade die Schule hat die Aufgabe Kinder zu demokratischen und konfliktfähigen Menschen zu bilden. Wie sollen sie den Umgang mit Unterschieden lernen, wenn sie nicht gemeinsam aufwachsen – spielen und lernen? Durch eine Projektwoche zum Thema Behinderung, durch eine Geschichte im Religionsunterricht oder durch ein gemeinsames Sportfest mit einer Förderschule wird sich die Kluft zwischen Menschen mit und ohne Behinderung nicht abbauen lassen. Der Graben kann sich sogar vergrößern, wenn ein distanzierendes Wir-Sie-Denken gefördert wird: „Wir – die Regelschüler und die anderen – die Kids von der Förderschule.“
Inklusion ist eben kein Projekt, sondern ein Prozess, den Schulklassen über viele Jahre hinweg gehen. Die Erfahrungen zeigen, dass Behinderung für die Beteiligten weniger eine Rolle spielt als die unterschiedlichen Bedürfnisse. Fragt man Kinder in inklusiven Klassen, ob sie Mitschüler*innen mit Behinderungen kennen, wird dies oftmals verneint. Sie kennen Benni, der im Rollstuhl sitzt oder Deniz, die viel Ruhe und Zeit braucht oder Kim, die mit Hilfe von Bildtafeln kommuniziert.
Das Merkmal Behinderung steht bei inklusiven Prozessen nicht im Vordergrund. Denn es geht ganz allgemein um Unterschiede UND Gemeinsamkeiten. Es geht um unterschiedliche Bedürfnisse: Hannes lernt lieber unter dem Tisch, das gibt ihm Sicherheit und Geborgenheit. Mahmoud braucht Ohrenstöpsel, weil es ihm oft zu laut ist. Soraya wird schnell langweilig, wenn nicht fix die nächste, kniffelige Aufgabe kommt.
Inklusion in der Schule wird oft als fataler Fehler, Utopie oder als gescheitert dargestellt. Oder es heißt: bei Kindern im Rollstuhl ist Inklusion okay, vielleicht auch noch bei Kindern mit Down-Syndrom, jedoch nicht bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten oder sogar mit „schwerer Mehrfachbehinderung“ oder Autismus. Doch Menschenrechte machen keine Unterschiede nach Fähigkeiten oder Behinderungsgraden. Sie gelten für alle. Und sie sind gut und richtig, auch wenn sich das für viele erst einmal nicht so anfühlt. Wie auch? Die meisten sind durch ein Bildungssystem sozialisiert, das extrem auf Trennung ausgelegt ist. Die unterschiedlichen Schularten stammen aus einer Zeit, wo es für den Staat Sinn machte eine bestimmte Anzahl an Arbeiter*innen, eine bestimmte Anzahl an Akademiker*innen und eine bestimmte Anzahl an Mittelmaß zu produzieren. Doch das war ein Staat, den wir nicht mehr haben. Heute geht es darum, dass alle Kinder alle Chancen und Möglichkeiten bekommen müssen, um das zu lernen, was sie lernen wollen und können. Familiären Voraussetzungen dürfen nicht zum Wegweiser für die weiterführende Schule gesehen werden.Und Privilegien für die jeningen, die am oberen Hebel der Gesellschaft sitzen, müssen endlich durch Gleichberechtigung ausgetauscht werden. In einer inklusiven Gesellschaft ist weder Platz für Sonderrechte für Privilegierte noch für Sonderschulen.
Und die vielen verschiedenen Förderschularten sind nichts weiter als die Antwort auf ein schlechtes Gewissen. Wir müssen aufhören den Glauben an die Sinnhaftigkeit von Förderschulen zu nähren und uns gemeinsam für ein inklusives Schulsystem mit all den benötigten Rahmenbedingungen einzusetzen. Und es muss immer wieder thematisiert werden. Der blinde Fleck in der Bildungsdebatte muss immer wieder beleuchtet werden: Es war eine Zeit, da wurden Zehntausende Menschen mit Behinderungen ermordet. Kinder mit Behinderungen wurden verschleppt und starben an grausamen Experimenten. Die Sogenannte „T-4-Aktion“ der Nationalsozialisten liefert kein weit hergeholtes Argument für die inklusive Bildung – die „T-4-Aktion“ ist der Fingerzeig auf unsere menschliche Verpflichtung Behinderung als Teil des Menscheins anzuerkennen (siehe hier) – und damit auch eine Schule, die nicht aussondert, sondern Voraussetzungen für alle Kinder in der Nachbarhscfta schafft. Nach dem 2. Weltkrieg war das schlechte Gewissen so groß, dass sie Politik den Sonderschulbefürworter*innen grünes Licht gab und beim Aufbau eines hochdifferenzierten Schubladensystems half. Für jede Behinderung die scheinbar passende Schublade.
Durch dieses trennende Schulsystem haben wir nun diese trennenden Vorstellungen – aller Wissenschaft zum Trotz. Wen man ethisch schon nicht überzeugen kann, den müsste man doch wissenschaftlich überzeugen können. Diverse Studien haben gezeigt, dass Kinder mit Förderbedarf im inklusiven Unterricht:
- mehr lernen
- erfolgreicher sind
- besser abschneiden als vergleichbare Schüler an Förderschulen
- weniger von Stigmatisierung betroffen sind
- durch die lernreiche Umgebung eher in der Lage sind einen Schulabschluss zu erreichen
- ein positiveres Selbstkonzept entwickeln
- bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben
(siehe u.a.: Bless 1995; Haeberlin u. a. 1990; Hildeschmidt/Sander 1996; Myklebust 2006; Tent u. a.
1991; Wocken 2007, IQB, BiLieF, Klemm, Schumann, siehe auch hier).
„Alle Studien zum Lernerfolg zeigen, dass die Mehrheit der behinderten Kinder in der Regelschule größere Fortschritte macht als in der Förderschule – und öfter einen Schulabschluss erreicht, der berufliche Perspektiven eröffnet“ (Prof. Klaus Klemm 2014, Südwest Presse).
Zudem ist auch nachgewiesen worden, dass das Selbstkonzept der Kinder an Förderschulen leidet und gerade Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen massiv diskriminierend sind (und diese Schulform ist am meisten vertreten). Denn je länger das Kind an der „Lernbehindertenschule“ ist, desto „dümmer“ wird es. Die Lernleistungen sind schlechter als im inklusiven Unterricht und Kinder mit bestimmten Merkmalen (bspw. Harz IV, Roma-Hintergrund) sind überproportional häufig an der „Lernbehindertenschule“ vertreten („Institutionelle Diskriminierung“).
Trotzdem: Der Glaube an den Erfolg der Förderschule hält sich hartnäckig. Förderschulen werden als besonders geschützter Bildungsort, an dem die Kinder in Ruhe und in der in Gruppen unter ihresgleichen lernen können, angesehen. Sie gelten als vorteilhaft. Hier muss in Hinblick auf die Studien (siehe oben) die Frage erlaubt sein, für wen die Schulform Förderschule vorteilhaft ist?
Veränderungen erzeugen Ängste und Widerstände. Gerade wenn man, wie die meisten, das Aufwachsen mit Kindern mit Behinderungen nicht gewohnt ist, kann der Gedanke an inklusiver Bildung Angst machen. Und diese Angst, aber auch Vorurteile lassen sich nicht so schnell abbauen, wie die Studienlage zu dem Thema zusammengefasst werden kann:
Nichtbehinderte Kinder lernen genauso gut wie Schüler in Klassen ohne inklusiven Unterricht, in einigen Studien erzielen sie sogar bessere Leistungen als in Klassen ohne behinderte Kinder (vgl. Feyerer 1998; Preuss-Lausitz 2009; Wocken 1999).
Dieser Forschungsbefund stößt vielerorts auf taube Ohren und bleibt im Schlagabtausch der Argumente nicht selten unerwähnt. Dabei profitieren auch besonders begabte Kinder mit einem IQ größer als 117 in ihrer Leistungsentwicklung und erhalten zusätzlich Förderung in ihren sozialen Kompetenzen (vgl. Bless/Klaghofer 1991; Feyerer 1998). Weitere Studien zeigen, dass die Leistungsheterogenität in einer Klasse für die Leistungsentwicklung schlicht egal ist (vgl. DESI 2006, S. 52).Zusammen gefasst:
Inklusive Bildung macht schlau und fördert soziale Kompetenzen.
Es ist das Aufzeigen von Best-Practice-Beispielen, die zeigen wie es gehen kann: In einer Grundschulklasse lernten die Kinder sehr schnell das Lesen, weil sie ihrem Mitschüler mit so genannter „Schwerstmehrfachbehinderung“ Geschichten vorlesen wollten. In einer anderen Schule wurden Strukturen wie ein Klassenrat geschaffen, damit Konflikte auch mit Kindern, die Schwierigkeiten mit der Welt haben, gemeinsam mit der Klasse gelöst werden können (siehe Film Berg-Fidel). Durch eine kontinuierliche und behutsame Begleitung und in kleinen Schritten wurde einem Kind mit Autismus der Schulbesuch in der inklusiven Klasse ermöglicht.
Umgekehrt gibt es Beispiele, die zeigen, dass es in Klassen drunter und drüber geht, zu Hauf. Und gerne wird dafür Inklusion verantwortlich gemacht. Verantwortlich sind die privilegierten Menschen, die die Macht haben ein System beizubehalten, weil sie sonst Nachteile befürchten. Gleichberechtigung und Diskriminierungsabbau sind Ziele und Produkte von Inklusion. Ziemlich deutlich sagt der zuständige UN-Fachausschuss (CRPD):
Das Aufrechterhalten von zwei Bildungssystemen, einem allgemeinen Bildungssystem und einem Sonderbildungssystem/auf Segregation beruhenden Bildungssystem ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention.
Der CRPD-Ausschuss der Vereinten Nationen, in dem viele Menschen mit Behinderungen aus aller Welt die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Vertragsstaaten überprüfen, macht unmissverständlich deutlich, dass ausgrenzende und getrennte Bildungseinrichtungen Kinder mit Behinderungen diskriminieren. Einfach ausgedrückt: Unser Förderschulsystem verstößt gegen das Übereinkommen.
Der UN-Fachausschuss empfiehlt das Sonderschulsystem durch ein inklusives Bildungssystem zu ersetzen und stellt klar, dass Kindern mit Behinderungen in im inklusiven System angemessene Vorkehrungen zur Verfügung stehen müssen (mehr dazu: vgl. Degener: Auf dem Weg zu inklusiver Gleichheit:. 10 Jahre UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2018, s.64-65)
Wir alle wissen: von angemessenen Vorkehrungen kann nicht überall die Rede sein. Das liegt an den halbherzigen Bemühungen Inklusion umzusetzen. Ressourcen werden weiterhin in Förderschulen gebunkert, weswegen sich viele zähneknirschend für diese Schulform entscheiden. Und Hand auf Herz, wir wissen eigentlich auch, so wie Schule heute läuft, ist es nicht gut – völlig unabhängig von Inklusion. Die Klassen sind zu voll, die Räume zu klein, zu wenig Zeit sich um jede*n einzelnen zu kümmern. Es fehlt an so vielem.
Die beste Messlatte stellen eigentlich die Bedürfnisse von Kindern mit Autismus und so genannter „schwerer Mehrfachbehinderung“ dar. Fühlen diese Kinder sich wohl und werden ihre Bedürfnisse befriedigt, müsste es eigentlich für alle gut sein. Kleine Klassen (für manche Kinder mit Autismus Kleinst-Klassen oder eben nur Kleingruppen und phasenweise Einzelunterricht), genug Rückzugsmöglichkeiten wie Ruheräume, reizarme Kuschel- und Entspannungszimmer, ein Snoezel-Raum, Schaukel- und Bewegungsmöglichkeiten, Bälle, Gehörschutz, Rollbretter und taktile Anregungsgegenstände im Klassenzimmer und genügend empathisches, qualifiziertes und liebevolles Personal (kontinuierlich) – diese Bedingungen würden eine gute Grundlage schaffen. Unabdingbar ist eine inklusive Haltung der Erwachsenen.
In Sachen angemessene Vorkehrungen und Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung gibt es noch einiges zu tun. Der Streit wird weniger und die Kritik leiser, wenn wir die Erfahrung machen, dass Inklusion passt. Im Grunde muss inklusive Bildung so umgesetzt werden, dass jede/r behaupten kann: „Inklusion? Das passt zu mir wie die Faust aufs Auge.“
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