Inklusive Bildung im Märchenland – Wir brauchen Fakten statt Vorurteile (zuerst erschienen auf jugendhilfe-bewegt-berlin, PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband Berlin e.V., 2014)
Geht es um das Herzblutthema inklusive Bildung, wird oft schon in den ersten Minuten eine ganze Reihe von Argumenten genannt, die die Inklusionsidee stützen oder stürzen sollen. Bedenken und Sorgen kommen in Inklusionsdebatten ebenso zum Ausdruck wie Mythen und Vorurteile. Inklusion bewegt sich zwischen Skepsis und Begeisterung, zwischen Befürwortern und Widersachern. Auf meiner Internetseite Inklusionsfakten.de wurden die gängigsten Vorbehalte gegenüber der inklusiven Bildung gesammelt und mit Verweis auf empirische Studien entkräftet. Fakten, Best-Practice-Beispiele, die Menschenrechts-perspektive und Quellen zu Bildungsstudien sollen Faktenwissen in die Inklusionsdebatte bringen. Und Fakten hat die Inklusionsdebatte dringend nötig.
Bild: Lisa Reimann
Die Aussagen „Inklusion ist Sozialromantik“, „Inklusion ist eine Illusion“ oder sogar „Wir sind nicht gegen Inklusion – wir finden nur andere Punkte wichtiger“ finden sich in Zeitungsartikeln, in Diskussionsrunden ebenso wie in manchen Beiträgen. Oft hören wir auch, inklusive Bildung sei zu teuer, das Kindeswohl sei gefährdet oder die Schulleistungen würden sinken. Viele verschiedene empirische Befunde zeigen das Gegenteil: Die Leistungen werden besser. Und auch nichtbehinderte Kinder haben keine Nachteile. Sie erbringen entweder gleich gute Leistungen wie Schüler/-innen in Klassen, die nicht inklusiv sind, oder sie erzielen sogar bessere Leistungen als in nichtintegrativen Klassen (vgl. Feyerer 1998, Preuss-Lausitz 2009, Wocken 1999). Und wer das Kindeswohl anführt, dem muss gesagt werden, dass das Selbstkonzept der Kinder, die Förderschulen besuchen, leidet (vgl. Schumann 2007). Der stigmabehaftete Besuch der Förderschule führt eben nicht zu mehr Selbstbewusstsein, sondern oft zu einer beschädigten Identität, wie Dr. Brigitte Schumann feststellte. Sie nannte die Förderschule deshalb auch „die Schonraumfalle“.
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Viele Vorurteile gegenüber der inklusiven Bildung halten sich ebenso hartnäckig wie der Glaube an eine homogene Lerngruppe. Was viele nicht wissen: Inklusion hatte jahrzehntelang Zeit im deutschen Bildungssystem Fuß zu fassen. Seit 1975 gab es Schulversuche, die wissenschaftlich begleitet wurden. Damals hieß der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung noch „Integration“. Diese Integration wurde nicht politisch verfolgt. Sie entstand aus Elterninitiativen und durch das Engagement einzelner Pädagoginnen/Pädagogen. Trotz vieler erfolgreicher Schulversuche, die von allen Beteiligten durchweg positiv bewertet wurden, und vieler Bemühungen der Eltern, Lehrer/-innen und auch mancher mutiger Schulbehörde, konnte sich der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen nicht flächendeckend durchsetzen. Das tradierte Förderschulsystem hielt dagegen. Veränderungen schien auch das Regelschulsystem nicht zu wollen. Eine Öffnung des Angebots für Kinder mit Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf verlief vor der UN-Behindertenrechtskonvention schleppend.
Dabei haben alle etwas von der Inklusion, die sich auf alle Heterogenitätsmerkmale bezieht. Niemand soll aufgrund seiner Behinderung, seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seine Gewichtes, seiner Religion/Weltanschauung, seiner sexuelle Identität usw. ausgesondert oder ausgegrenzt werden. Lerngruppen sind immer heterogen, denn jeder Schüler/jede Schülerin bringt andere Lernvoraussetzungen mit. Die gleichberechtigte Teilhabe und die Antidiskriminierung machen die Inklusionsidee zu einem demokratischen und menschenrechtlichen Grundprinzip. Eine Forderung, die in der Pädagogik zwar oft postuliert wird, aber in den Systemen und bestehenden Strukturen nur selten umgesetzt wird. Gerade unser viergliedriges Schulsystem (in einigen Bundesländern schon etwas zusammengeschrumpft) fördert strukturelle Diskriminierung und Bildungsungerechtigkeit. Das ist keine verrückte Ideologie. Das ist die Erkenntnis aus jahrelanger Forschung (bspw. PISA, IGLU, Klemm usw.). Der ehemalige UN-Sonderbotschafter Venor Muñoz meinte: „Segregative Systeme stehen ganz allgemein der Menschenwürde entgegen“ (Muñoz 2009, S.4). Ja, Inklusion stellt die Systemfrage und nein, inklusive Bildung ist kein additives „Nebenbei-Projekt“. Sie erfordert ein Umdenken in all unseren Routinen, Strukturen und Systemen. Inklusion ist eine menschenrechtlich verankerte Idee, und es ist wichtig, dass Menschenrechte nicht von Meinungen und Stimmungslagen abhängig gemacht werden.
Zur gleichberechtigten Teilhabe an allgemeinen Bildungsprozessen in den Schulen hat sich der Vertragsstaat Deutschland völkerrechtlich verpflichtet. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland in Kraft ist, beinhaltet in ihrem Artikel 24 das Recht auf inklusive Bildung. Kein Kind mit Behinderung kann gegen seinen Willen (oder den der Eltern) auf einer Förderschule abgeschoben werden. Die notwendige Unterstützung muss sichergestellt werden. Der gemeinsame, inklusive Unterricht steht für die Idee der Menschenrechte. Denn inklusive Bildung stärkt die Achtung der menschlichen Vielfalt (Menschenrechtsbildung). Es ist die die staatliche Verpflichtung, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen und zu unterhalten, weil, laut UN-Behindertenrechtskonvention, das Recht auf Bildung nur in einem inklusiven System gewährleistet werden kann (vgl. Art. 24 Abs.1 in V.m. Art. 4 Abs. 2 BRK und vgl. Aichele 2010).
Die Menschenrechtsexpertin Prof. Degener meint, dass die UN-Behindertenrechtskonvention „einen sehr viel radikaleren Paradigmenwechsel verlange, als offenbar angenommen wird“ (vgl. Degener 2013, S.5), und Artikel 24 fordere die radikale Abschaffung jeder Form von Segregation im Bildungssystem” (vgl. Degner, 2013, S.5).
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Radikal? Inklusion erzeugt Angst – Angst, dass das bestehende Homogenitätsdenken durcheinander gebracht wird. Wollen wir davon abrücken, dass Kinder, weil sie nicht „richtig“ lernen, sich nicht „richtig verhalten“ oder nicht „richtig sprechen“ auf eine Förderschule kommen, muss sich das Schulsystem grundlegend ändern. Förderschule heißt meistens, dass das Leistungsniveau sinkt, dass die Wahrscheinlichkeit einen Schulabschluss zu schaffen sinkt und dass der Kontakt zu nichtbehinderten Gleichaltrigen im Sozialraum eingeschränkt wird. Ohne inklusive Bildung wird es auch keine inklusive Gesellschaft geben.
Veränderungen sind vom politischen Willen abhängig. Auch wenn es schwierig ist von Geld zu reden – wenn es um ein verbrieftes Menschenrecht geht, sind die Argumente der Kosten stark vertreten. Das bedeutet, dass die Sonderbeschulung – wenn schon nicht mit der Qualität legitimiert werden kann – mit dem Kostenargument aufrechterhalten wird. Hier muss deutlich gemacht werden, dass Kostenfolgeabschätzungen, die auch den weiteren Lebensweg der Kinder miteinberechnen, zeigen, dass inklusive Bildung auf lange Sicht und unterm Strich nicht viel teurer ist. Beide Systeme, das Förderschulsystem und das inklusive Regelschulsystem, parallel zu fahren, das ist teuer. Während sich an Förderschulen die Vorteile in Sachen Ausstattung potenzieren, potenzieren sich an inklusiven Schulen oft die Nachteile. Es braucht an vielen inklusiven Schulen noch räumliche, sächliche und vor allem personelle Ressourcen. Denn, wie der US-amerikanischer Psychologe Julian Rappaport sagte: „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz.“
Zur Internetseite Inklusionsfakten:
Inklusive Bildung zu teuer – Kindeswohl gefährdet – Schulleistungen sinken. Wissenschaftlich fundierte Argumente gegen diese Vorurteile gegenüber inklusiver Bildung finden Sie auf meiner Internetseite Inklusionsfakten.de. Die Argumentationssammlung hat für jedes Vorurteil der Inklusionsskeptiker die passenden Gegenargumente. Inklusionsfakten über Mythen und Fakten rund um das Thema inklusive Bildung.
Zur Autorin:
Lisa Reimann (Master in Pädagogik) wirbt als freie Dozentin für die Inklusionsidee und stellt inklusive und vorurteilssensible Praxiskonzepte vor (Anti-Bias-Ansatz, inklusive Pädagogik). Neben Seminaren zum Thema inklusive Bildung bietet sie auch Beratung in Sachen Inklusion und Antidiskriminierung an.
Weitere Infos: inklusionsfakten.de/lisa-reimann/
Quellen:
Aichele, V. (2010): Stellungnahme der Monitoring-Stelle zur UN -Behindertenrechtskonvention zur Stellung der UN-Behindertenrechtskonvention innerhalb der deutschen Rechtsordnung und ihre Bedeutung für behördliche Verfahren und deren gerichtliche Überprüfung, insbesondere ihre Anforderungen im Bereich des Rechts auf inklusive Bildung nach Artikel 24 UN-Behindertenrechtskonvention. Gleichzeitig eine Kritik an dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. November 2009 (7 B 2763/09) www.institut-fuer-menschenrechte.de/presse/stellungnahmen/stellungnahme-der-monitoring-stelle-zur-un-behindertenrechtskonvention.html
Degener, T. (2013): Bericht aus Genf, Nr.6/2013, S.5 www.efh-bochum.de/homepages/degener/
Feyerer, E. (1998): Behindern Behinderte? Integrativer Unterricht in der Sekundarstufe I. Studienverlag, Innsbruck/Wien.
Muñoz, V. (2009): Vortrag von Venor Muñoz zum Recht auf Bildung im Juni 2009 in Oldenburg.
Preuss-Lausitz, U. (2009): Integrationsforschung. Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven. In: Eberwein, H., Sauer, S. (Hrsg.): Handbuch der Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Beeinträchtigung lernen gemeinsam. 7. Auflage. Beltz, Weinheim/Basel, S. 458–470.
Schumann, B (2007): „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“. Julius Klinkhardt Verlag, Bad Heilbrunn.
UN-Behindertenrechtskonvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD) vom 13.12.2006. Resolution 61/106 der Generalversammlung der UNO http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/?id=467
Wocken, H. (1999): Schulleistungen in heterogenen Lerngruppen. In: Eberwein, H., Sauer, S. (Hrsg.): Handbuch der Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam. 7. Auflage. Beltz, Weinheim/Basel, S. 315-320.
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