Um das Thema Inklusion im Bildungssystem wird viel gestritten. Während es den einen nicht schnell genug geht, wollen andere, dass sich nichts verändert. Doch Kinder mit Behinderungen haben ein Recht auf gute inklusive Bildung. Deutschland hat sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen. So steht es in Artikel 24 der Konvention. Doch anstatt ein inklusives Schulsystem aufzubauen, halten viele verantwortliche Politiker an der bestehenden Förderschullandschaft fest. Inklusion wird vielerorts als Zusatzangebot verstanden, anstatt wohnortnahe Bildung an einer Schule für alle zu ermöglichen – unabhängig vom Grad der Behinderung. Zwar ist in einigen Bundesländern die Inklusionsquote schon recht hoch (Berlin, Bremen), doch kann von einem inklusiven Schulsystem nirgendwo in Deutschland die Rede sein (zum Hintergrund von Inklusionsquoten, siehe hier). Die deutsche Bildungspolitik will Inklusion umsetzen, doch die getrennte Lernwelt wird beibehalten. Die politischen Verantwortlichen tanzen auf zwei Hochzeiten gleichzeitig. Und das geht bekanntlich in die Hose.
Nach wie vor verschaffen sich immer wieder Stimmen Gehör, die die Förderschulen verteidigen. Diese Stimmen dringen anscheinend lauter ans Ohr der Politik als die Menschenrechtsperspektive. Der Abbau von Förderschule hat aber einen menschenrechtlichen Sinn. Eine Vielzahl an Forschungsbefunden hat gezeigt, dass die Förderschule nicht der beste Förderort für Kinder mit Behinderungen ist. Im Gegenteil, die schädlichen Nebenwirkungen wurden wissenschaftlich nachgewiesen. Durch die getrennten Sonderwelten werden Menschen mit Behinderungen wichtige Teilhabechancen genommen und Diskriminierungen befördert. Studien zeigen, dass Kinder mit Behinderung in inklusiven Settings mehr lernen. Ihre Chancen auf einen Schulabschluss und weitere berufliche Perspektiven steigen. Durch gute inklusive Bildung wird allen Kindern vermittelt, dass niemand aufgrund eines Merkmals ausgeschlossen wird. Gleichberechtigung, Anti-Diskriminierung und Inklusion werden zu erlebbaren Werten.
Die verantwortlichen Politiker stehen in der Pflicht die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und das Inklusionsrecht von Kindern mit Behinderungen zu verwirklichen. Doch anstatt die Ärmel hochzukrempeln und die notwendigen Schritte anzugehen, verhalten sich die Bildungsminister/innen zögerlich. Mit fatalen Folgen.
So lange Förderschulen weiter in der hohen Anzahl bestehen, ist die Umgestaltung des Schulsystems grundlegend gefährdet. Der Erhalt der Sonderschulen bindet wichtige finanzielle und personelle Ressourcen, die dringend für die Inklusion in Regelschulen benötigt werden, so der Datenreport Update Inklusion der Bertelsmann Stiftung (2014, S.3). Auch die Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte warnt: „Das Festhalten an einer Doppelstruktur behindert den im Vertragsstaat erforderlichen Transformationsprozess, in dessen Zuge die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der sonderpädagogischen Förderung in die allgemeine Schule verlagert werden könnten“ (Parallelbericht 2015, S.27). Der Gemeinsame Unterricht ist vielerorts spärlich ausgestattet. Es fehlt an räumlichen, sächlichen und personellen Ressourcen.
Der UN-Fachausschuss in Genf zur Überprüfung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, der am 26. und 27. März 2015 tagte, stellt in der Staatenberichtsprüfung fest: “Es scheint, dass prioritär in Förderschulen investiert wird – zu Lasten der inklusiven Bildung.“ Dieses Ungleichgewicht geht vor allem zu Lasten von Kindern mit Behinderungen, die weniger Bildungschancen im Förderschulwesen haben. Auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen verhindert ganz offensichtlich den Aufbau eines gut ausgestatteten inklusiven Bildungswesens. Wenn wir damit beginnen würden, Förderschule zu schließen und frei werdende Ressourcen der inklusiven Bildung zukommen zu lassen, kommen wir voran. Auch die „umgekehrte Inklusion“ ist dabei ein Schritt in Richtung Inklusion. Dabei werden aus bereits gut ausgestatteten Förderschulen mit Entspannungsräumen und barrierefreien Toiletten inklusive Schulen.
Doch die Politik unterzieht das Förderschulsystem keiner kritischen Überprüfung. Das wäre aber notwendig, denn die Ressourcen sind begrenzt. Die Bildungsminister/innen können nicht gleichzeitig den Förderschulen und der Inklusion angemessen gerecht werden. Auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen hat folgenschwere Auswirkungen für die inklusive Bildung. Vielerorts fehlen Sonderpädagogen, spezielle Materialien oder weiteres Fachpersonal. Motto sollte sein: Die Hilfe muss dem Kind folgen, nicht das Kind der Hilfe. Doch viele Eltern und Lehrer/innen, die sich für das Inklusionsrecht von Kindern mit Behinderungen einsetzen, bekommen die Unterfinanzierung des Gemeinsamen Lernens zu spüren.
Das Einsparen von entsprechenden Mitteln und Ressourcen für den inklusiven Unterricht verstärkt Vorurteile, Ängste und das Gefühl des nicht Vorankommens. Überforderung und schlechte Förderung sind Ergebnisse der gleichzeitigen Hochzeitsbesuche, die den Ausbau inklusiver Bildung im Weg stehen. Das zeigen auch die Zahlen: Mit 72 Prozent lernen zu viele Kinder mit Behinderungen an Förderschulen, obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention seit 2009 in Deutschland Kraft ist. Der UN-Fachazsschuss stellte fest, dass die Anstrenungen zur Erhöhung eines inklusiven Bildungssystems in Deutschland nicht reichen. Um das Recht auf Inklusion umzusetzen, muss der Zwei-Hochzeiten-Tanz aufhören. Denn „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen ist ein grausamer Scherz!“ (Julian Rappaport).
Quellen:
Bertelsmann-Stiftung (Hrsg): Update Inklusion.
Datenreport zu den aktuellen Entwicklungen. Gütersloh: 2014.
Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention: Parallelbericht an den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen anlässlich der Prüfung des ersten Staatenberichts Deutschlands gemäß Artikel 35 der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin: 2015.
Ein Kommentar
Warum schafft man nicht die sogenannten ,,normalen “Schulen ab ? Zur Zeit erlebt man ja auch dass in Sonderschulen immer mehr Gelder gekuerzt werden so dass wichtige Elemente (Zusatzangebote :Lernortbesuche und andere Aktivitaeten )nur noch reduziert angeboten werden koennen ,wodurch ein durchaus notwendiges ,,Sonder”programm garnicht mehr realisiert werden kann.
Warum wird das Lernen nicht einfach mit dem
alltaegl. Leben in Beruehrung gebracht ?