Klassenfahrt für alle? “Nein, denn wir haben das immer schon so gemacht”

Marc geht in die Klasse 9c des Gymnasiums XY irgendwo in Deutschland. Eigentlich könnte alles ganz gut sein. Marc geht gerne zur Schule, die neue Klassenlehrerin ist auch netter als die alte und eine Klassenreise eine tolle Angelegenheit. Dennoch ist die Situation besonders unfassbar.

Das besondere daran ist nicht Marc, sondern das Gymnasium. Denn dieses Gymnasium ist nicht in der Lage eine Klassenfahrt so zu planen, dass ein Schüler im Elektrorollstuhl teilnehmen kann. Das Gymnasium macht schon seit vielen Jahre -also in langer Tradition- Klassenreisen ins Ausland, bei der die Schüler/innen nicht nur die Sprache, sondern auch die jeweilige „Kultur“ des Landes kennen lernen. Die Ausflugsziele wiederholen sich jedes Jahr ebenso wie die Verkehrsmittel. Die Aussage “Wir haben das immer schon so gemacht” lässt keinen Spielraum für Veränderungen. Dass Änderungen vorgenommen werden müssten, wenn ein Schüler im Rollstuhl mitkommt, ist für die Verantwortlichen undenkbar. Dass durch solche Änderungen vielleicht noch viel bessere Erlebnisse herauskommen könnten, ist für die Schule noch viel undenkbarer.

Mit viel Engagement und mit nervenraubenden Kleinstarbeit haben die Eltern von Marc versucht, die Verantwortlichen dazu zu bringen, Alternativen, kleine Änderungen oder mehr Flexibilität einzuplanen, damit Marc teilnehmen kann. Die Antwort der Schule: „Wir haben das schon immer so gemacht. Marc kann ja mitkommen, aber wir können auf ihn keine Rücksicht nehmen. Wenn ein Museum nicht barrierefrei ist, dann kann er eben nicht mit rein. Die Schüler sollen nicht unter Marcs Behinderung leiden“.

Was die Schule leider völlig verkennt ist, dass nicht die Schüler/innen leiden, weil sie „wegen Marc“ nicht in ein nichtbarrierefreies Museum können, sondern dass diese tiefgehenden Exklusionserfahrungen massive Auswirkungen auf die Biografien der Schüler /innen haben wird. Lernen die Schüler/innen “es ist okay, dass wir ein Kind mit Behinderung auschließen”, so rückt die Idee von Inklusion in weite Ferne. Das Resultat ist eine an Akzeptanz- und Empathie mangelnde und daher leidende Gesellschaft. An Marcs Recht auf gleichberechtigte Teilhabe denkt die Schule nicht. Welche Botschaft wird einem jungen Menschen da gesendet? Marc muss sich wie ein „Störenfried“, wie eine „Belastung“ vorkommen, was ihm ja immer wieder aufs Brot geschmiert wird.

Die verantwortlichen Lehrer/innen sind nicht bereit sich um ein anderes Busunternehmen zu kümmern, eines mit einem Rollstuhlplatz oder sonst irgendetwas für Marcs Teilnahme zu tun. Menschenrechtlich ist die Situation völlig klar und deshalb irgendwie auch absurd. Marc hat selbstverständlich das Recht an der Klassenreise teilzunehmen. Würden Marcs Eltern gegen die Schule/bzw. Behörde klagen, hätten sie sehr gute Chancen das Verfahren zu gewinnen. Doch was nutzt Marc das?
Marc und seine Eltern befinden sich in einer schwierigen Machtkonstellation. Die Schule bewertet den Einsatz von Marcs Eltern sowieso schon als Einmischung. Sie werden als ein paar “schwierige Querulanten-Eltern”, mit überzogenen Vorstellungen, abgestempelt.

Die Eltern haben alles versucht, um ihren Sohn die Teilnahme an der Klassenreise ins Ausland zu ermöglichen. Doch es erscheint unmöglich. Dabei ist das Finden von barrierefreien Reisebussen noch das geringere Problem. Das Problem liegt in dem Gefühl des Unerwünschtseins. Das Engagement der Eltern, ein barrierefreies Busunternehmen zu finden, ist ebenso unerwünscht wie Abweichungen der Programmpunkte, die Marcs Teilhabe möglich machen würden. Das Problem sind die Barrieren in den Köpfen. Das Problem ist die soziale Kälte. Das Problem ist die Ignoranz. Die Schule hat noch nicht einmal versucht, eine theoretische Teilnahme Marcs ernstahft durchzuspielen.

Die Eltern holten sich bei mehreren Stellen Hilfe. Organisationen und die zuständige Sozialbehörde finden die Situation unfassbar. Inklusionsfakten möchte mit diesem Artikel das Unrecht wenigstens öffentlich machen. Denn Klagen werden die Eltern nicht. Denn das würde sich leider nachteilig auf das Verhältnis zur Schule auswirken, was letztendlich wieder zu Lasten von Marc ginge. Marc, der einfach nicht erwünscht ist, jedenfalls nicht mit einer Behinderung, will, dass wieder Ruhe einkehrt. Verständlich. Jugendliche wollen eigentlich nur Jugendliche sein und keine Last für die Peer-Group. Marc wird nicht an der Fahrt ins Ausland teilnehmen. Er wird aber auch nicht während dieser Zeit in den Unterricht in eine andere Klasse gehen.

Wenn Sie auch entsetzt vom Verhalten der Schule sind, wütend über so viel Ungerechtigkeit und Ignoranz und traurig, dass da einem jungen Menschen Teilhabechancen und ein wichtiges soziales Erlebnis genommen wird, dann erzählen Sie die Geschichte weiter. Alle, die im inklusiven Unterricht arbeiten bzw. arbeiten werden, sollten rechtzeitig, schon in den Planungen einer Klassenreise, an die gleichberechtigte Teilhabe aller denken. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern kann eine wunderbare Klassenreise organisiert werden, bei der Vielfalt zum „Normallfall“ wird:

„Dem einen helfen wir beim An- und Ausziehen, dem anderen beim Heimwehbekämpfen“.

Inklusion erfordert einen emphatischen Umgang mit Vielfalt. Inklusion erfordert ein Bewusstsein für Diskriminierung. Inklusion erfordert eine Abkehr von „Das haben wir immer schon so gemacht“.

Mehr über diese Geschichte erfahren Sie hier: Klassenfahrt – nur zu 93%: Eine wahre Geschichte, die zeigt, dass es noch viel zu tun gibt: http://inklusionsfakten.de/klassenfahrt-nur-zu-93/

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