Liebe neue Koalition im Deutschen Bundestag,
die Parteien sprechen sich alle (ausser die AfD) für die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (kurz: UN-BRK) aus. Was heisst das für die Koalitionsfraktionen und den Koalitionsvertrag? Wie sieht es da mit Artikel 24 der UN-BRK, dem Recht auf inklusive Bildung, aus? Ja ja, eine Ländersache.
Aber: Vertragspartner der UN-BRK ist die Bundesrepublik Deutschland. Somit seid ihr, lieber Bundestag, die Oberverantwortlichen und nicht etwa Sachsen oder Bayern. Ihr müsst also etwas ändern, wenn ihr das Menschenrecht auf inklusive Bildung ernsthaft umsetzen wollt. Die Länder kriegen das seit Jahren nicht gebacken. Ändern kann das vor allem etwas die Koalition. Vorrausgesetzt sie versteht Artikel 24 nicht falsch. Es ist bekannt, dass viele Menschen Art. 24 recht unterschiedlich verstehen und es oft zu Missverständnissen kommt. Deshalb hat der zuständige UN-Fachausschuss (CRPD) einen abschließenden Kommentar zu Artikel 24 verfasst, den so genannten General Comment. Ihr braucht ihn also nur zu lesen und wisst gleich: Die Förderschulen werden geschlossen, die Förderschullandschaft wird abgeschafft. Es gibt keine Doppelstruktur mehr, kein Zwei-Hochzeitentanz, kein Doppelsystem von Förder- und Regelschulen.
Denn: Die Doppelstruktur verhindert den Transformationsprozess. Mit einem Förderschulsystem gibt es keine Inklusion, ganz einfach. Ganz davon abgesehen ist eine Doppelstruktur viel zu teuer für euch und nicht im Sinne von Inklusion. Wenn am Ende ein paar wenige Förderschulen übrig bleiben, ist das eigentlich unproblematisch. Jedoch sollten schon an die 90 % der Kinder mit Förderbedarf inklusiv beschult werden und wann immer sie es möchten. Und einfach irgendwelche Kinder an der Regelschule neu zu etikettieren, ohne dass die Anzahl der Kinder an Förderschulen sinkt, ist auch nicht im Sinne von Inklusion.
Was hat das mit euch zu tun, liebe Koalition? Ihr seid die Legislative. Ihr seid Vertragspartner der UNO. Ihr habt die Mittel, Möglichkeiten und auch die Verantwortung Menschenrechte umszusetzen. Menschen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Begabungen, Fähigkeiten, Weltaunschaungen usw. Alle haben das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe und Chancengleichheit. Das ist mit Aussonderunderung unter dem Deckmantel der Förderung nicht vereinbar. Denn Förderschulen fördern nicht wirklich (siehe hier und hier). Kontaktmöglichkeiten zu gleichaltrigen Peers ohne Behinderung (bzw. mit) bleiben verwehrt.
Wer in der Koalition immer noch glaubt, die Förderschulen könnten in der Anzahl erhalten bleiben oder man könne Inklusion auf die lange Bank schieben, der/die braucht dringend Nachhilfe und Förderung. Und jetzt bitte nicht wieder herrausreden, dass Bildung die Kulturhoheit der Länder ist. Es gibt immer Wege und Möglichkeiten ein Menschenrecht umzusetzen, da können auch Bundestagsabgeordneten ihren Senf dazu geben. Ob es gleich eine Aufhebung des Kooperationsverbotes geben muss oder vielleicht ein anderes neues Gesetz oder ob ihr irgendeinen “Kuhhandel im Hinterzimmer” betreibt, letztendlich zählt das Ergebnis: Inklusive Bildung muss weiter voranschreiten und braucht Ressourcen, damit nicht irgendwelche Leute wieder sagen können, dass sie nicht funktioniert. Denn sie funktioniert vielerorts schon und zwar seit mehreren Jahrzehnten. Zahlreiche Praxisbeispiele zeigen, Inklusion ist ein Gewinn für alle. Was nicht gut funktioniert sind Förderschulen und das ist seit langem bekannt. Kinder an Förderschulen erreichen seltener einen Schulabschluss, sie lernen weniger, sie werden in ihren Potenzialen ausgebremst, sie haben ein geringeres Selbstkonzept, sie haben weniger berufliche Perspektiven und sie müssen in einer Gesellschaft leben, die sie aufgrund einer Behinderung in eine besondere Schuhe steckt. Das ist beschämend.
Setzt euch endlich engagiert für inklusive Bildung ein und macht Druck bei den Bundesländern. Spendiert ihnen vielleicht auch eine Normenprüfung, so dass unabhängige Gutachter die Gesetze, die in irgendeiner Weise mit dem inklusiven Schulbesuch zu tun haben, prüfen, ob sie der UN-BRK entsprechen (Gesetze/Verordnungen zur Schulbeförderung, Barrierefreiheit, Ausbildungsverordnung, Schulgesetze usw.). Oder ändert die Gesetze so, dass das Recht auf inklusive Bildung in den Ländern endlich umgesetzt werden muss und zwar so wie es in der UN-BRK steht.
Jedes Kind mit Behinderung hat das Recht auf Unterstützung. Jedes Kind mit Behinderung hat das Recht auf Personal, das es bei der gleichberechtigten Teilhabe an der Regelschule unterstützt. Wenn ein Kind in einer großen Gruppe überfordert ist, braucht es an den Schulen flexible Zwischenlösungen. Wenn ein Kind von anderen Kindern eine Pause braucht, braucht es Rückzugsräume. Wenn ein Kind gehänselt wird, egal warum, braucht es Erwachsene, die einschreiten, Schutz geben und sensibel mit Vorurteilen umgehen. Diese Erwachsenen brauchen ein Handwerkszeug, um Diskriminierung zu erkennen und einzuschreiten (bspw. Anti-Bias-Ansatz). Sie brauchen ein Wissen um eine inklusive Didaktik, die ein Lernen im Gleichschritt ablöst. Welche Zutaten für die Inklusion benötigt werden ist bekannt. Am besten wissen das die Schulen selbst. Sorgt endlich dafür, dass die Mittel auch bereitgestellt werden. Und noch etwas: Sollten eure Kolleginnen und Kollegen auf Landesebene Art. 24 noch nicht richtig verstanden haben, helft Ihnen. Erklärt ihnen, dass das Recht auf inklusive Bildung ein Menschenrecht ist, das nicht aufgeschoben werden darf. Förderschulen können in inklusive Schulen verwandelt werden. Es braucht strukturelle Änderungen.
Für all diese Schritte müssen Mitglieder des Deutschen Bundestages ersteinmal wissen, welche Stellenwert die UN-BRK hat, was die Gutachten sagen, wie sinnvoll Inklusion ist und wie sie realisierbar ist. Es braucht ein Programm, eine Fortbildungsoffensive, einen Fahrplan mit verbindlichen Zielen und einen Zeitplan, der regelmäßig überprüft wird. Setzt euch auf Bund-Länder-Ebene, wann immer es geht, für die Umsetzung von Artikel 24 ein. Und sollten Vorurteile gegenüber inklusiver Bildung vorhanden sein (“funktioniert nicht bei allen Kindern”, “zu teuer” oder “benachteiligt nichtbehinderte Kinder”), dann verweise ich auf die gesammelten Falschaussagen, die analysiert, entlarvt und mit wissenschaftlichen Studien widerlegt werden: hier.
Die wichtigsten menschenrechtlichen Aussagen zu Artikel 24:
- Das Aufrechterhalten von zwei Bildungssystemen, einem allgemeinen Bildungssystem und einem Sonderbildungssystem/auf Segregation beruhenden Bildungssystem ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention.
- “Eine schrittweise Verwirklichung besteht entsprechend dem Gesamtziel des Übereinkommens darin, klare Verpflichtungen für die Vertragsstaaten hinsichtlich der vollen Verwirklichung der fraglichen Rechte zu etablieren. Entsprechend werden die Vertragsstaaten bestärkt, die Zuweisung von Haushaltsmitteln, einhergehend mit einer Übertragung von Mitteln zur Entwicklung inklusiver Bildung, neu vorzunehmen“ (General Comment zu Art. 24, UN-BRK, Übersetzung durch BMAS, S. 18).
- „Die getrennte Beschulung im Grundsatz scheidet angesichts der Existenz der BRK als legitimer Zweck aus“ (Riedel-Gutachten, 2010, S.28).
- „Das Festhalten an einer Doppelstruktur behindert den im Vertragsstaat erforderlichen Transformationsprozess, in dessen Zuge die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der sonderpädagogischen Förderung in die allgemeine Schule verlagert werden könnten“ (Monitoring-Stelle, Parallelbericht 2015, S.27)
- Der Erhalt der Sonderschulen bindet wichtige finanzielle und personelle Ressourcen, die dringend für die Inklusion in Regelschulen benötigt werden (Datenreport Update Inklusion der Bertelsmann Stiftung, 2014, S.3).
- Inklusion im Bildungsbereich darf nicht verlangsamt, ausgesetzt oder aufgeschoben werden. Kinder mit Behinderung, die keine Hilfe zur gleichberechtigte Teilhabe bekommen oder/und auf die Förderschule müssen, da das Angebot fehlt, werden diskriminiert. “Die Versagung angemessener Vorkehrungen stellt Diskriminierung dar und die Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen zu treffen, ist unmittelbar einzuhalten und nicht etwa schrittweise umzusetzen” (S.14 General Comment, Übersetzung durch BMAS).
Der General Comment zu Art. 24 beschreibt u.a., dass ein Hindernis darin besteht, dass ein Mangel an politischem Willen, technischem Wissen und Kapazitäten bei der Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung, besteht – einschließlich unzureichender Ausbildung des Lehrpersonals (S.2. General Comment, Übersetzung durch BMAS). Den Mangel an politischen Willen gilt es aufzuheben. Für Bundestagsabgeordnete, vor allem Politiker/innen der Koalitionsfraktionen, sollte es deswegen ein Update bzw. ein Fortbildungsangebot zu Artikel 24 geben und das sollte mehr sein als eine Anhörung oder ein parlamentarischer Abend. Das Thema Bidung ist viel zu wichtig als es nebenbei laufen zu lassen. Bildung bildet Gesellschaft. Inklusive Bildung schafft die Basis für ein diskriminierungsfreies Zusammenleben.
Schade, dass im neuen Deutschen Bundestag einige Bildungsexpertinnen/-experten fehlen (siehe hier). Umso wichtiger, dass neue engagierte Mitglieder des Deutschen Bundestages ihr Mandat für die inklusive Bildung artikulieren. Die Länder schaffen es nicht.
Danke.
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