Von der langsamen zur schnellen Elke

1. Inklusionsmärchen 2015

Von der langsamen zur schnellen Elke

Es war einmal eine Frau. Diese Frau hieß Elke. Elke studierte Sonderpädagogik. Das war 1970. Sie liebte die Arbeit mit Kindern mit Behinderung. Sie wollte gerne behinderte Kindern dabei unterstützen Bildung zu erfahren. Ihr Referendariat machte sie an einer Förderschule. Es lief alles etwas langsamer ab als sie es aus ihrer eigenen Schulzeit kannte. Aber sie war ja nicht umsonst auf einer Förderschule. Die Kinder lernten langsamer und sie musste den Stoff oft wiederholen. Sie gewöhnte sich an diese Langsamkeit. Sie gewöhnte sich auch an die kleinen Klassen. Nach dem Referendariat konnte sie auf der Förderschule bleiben. Sie unterrichtete von nun an immer kleine Klassen mit ca. 10 Kindern. Sie wusste, dass die meisten wohl später in eine geschützte Werkstatt gehen würden. Denn diese Kinder waren sehr langsam. Irgendwann, und das ziemlich am Anfang ihres Berufslebens, wurde auch Elke langsamer. Sie merkte es nicht. Es war auch nicht mehr nachvollziehbar, wer angefangen hatte langsam zu sein: Elke oder die Kinder.

Elke mochte ihre Arbeit. Es war natürlich auch anstrengend. Die Elternarbeit verlief manchmal sehr zäh und manche Kinder waren zwar im Lernen langsam, im Schimpfwörter sagen oder Stühle umschmeißen aber sehr schnell. Schneller als Elke. Aber dieser Stress ging vorüber. Irgendwann wurden die Kinder groß und verließen -ohne Schulabschluss- die Förderschule, um eine der vielen Werkstätten zu besuchen. Elke fand es zwar schade, dass kaum einer ihrer ehemaligen Schüler einen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt fand, stellte aber das System nie in Frage.

Dann kam das Jahr 2009. 2009 trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Elke hatte erst später davon erfahren – sie war ja etwas langsamer – langsamer als die GEW, langsamer als „Gemeinsam Leben -Gemeinsam Lernen“ und langsamer als andere Organisationen, die sich schon seit Jahren für den gemeinsamen Unterricht einsetzten. Elke hielt nicht viel davon. Der gemeinsame Unterricht, so las sie es in der Mitgliederzeitschrift des Verbands der Sonderpädagogen, bei dem sie Mitglied war, war etwas, was viel zu sehr zulasten der Kinder ging. Auch wenn es im Einzelfall, wie durch ein Wunder, mal ganz gut funktionierte, so war das gemeinsame Lernen doch ein großer Nachteil, vor allem für die behinderten Kinder. So dachte Elke. Und hätte sie diesen gemeinsamen, inklusiven Unterricht nicht kennen gelernt, so würde sie auch heute noch so denken.

Doch schon kurz nachdem die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft trat, fingen auf einmal alle an zu diskutieren und alle benutzten auf einmal dieses eine Wort: INKLUSION. Kinder mit Behinderungen hätten ein Recht auf die allgemeine Schule zu gehen. Die UNO sei der Ansicht, dass sei der bessere Weg für die Kinder. Das zeigen auch Forschungsbefunde. Studien zeigen, dass das Selbstkonzept der Förderschüler auf Förderschulen leidet (vgl. Studie von Brigitte Schumann). Die BiLieF-Studie, die Ergebnisse von Bildungsvergleichsstudien des IQB und weitere Untersuchungen zeigen, dass behinderte Kinder im inklusiven Unterricht größere Fortschritte erzielen als in der Förderschule. Sie erreichen auch öfter einen Schulabschluss, der ihnen eine andere berufliche Perspektive eröffnet als die Werkstatt. Und letztendlich kann eine inklusive Gesellschaft nur durch inklusive Schulen erreicht werden, da dadurch Vorurteile abgebaut und ein gegenseitiges Verständnis aufgebaut wird.

Elke traute erst ihren Ohren nicht. Ihre Schüler sollten auf eine allgemeine Schule gehen? In eine richtige Klasse? Wäre das nicht eine Überforderung, wäre nicht alles viel zu schnell für sie? Elke stand der Inklusionsidee skeptisch gegenüber. Sie dachte zwar, dass die vielen Studien ja irgendwie stimmen mussten, die zeigen, dass die Kinder im gemeinsamen Unterricht mehr lernen, aber sie zweifelte daran, ob das auch wirklich auf ihre Schüler zutraf. Und letztendlich dachte sie dabei auch ein bisschen an sich. Sie hatte ja Sonderpädagogik studiert, um an einer Förderschule mit beeinträchtigten Kindern zu arbeiten. Würde ihre Förderschule tatsächlich geschlossen werden, dann müsste auch sie an einer allgemeinen Schule arbeiten. Eine große Klasse, fremde Kollegen, die keinen Schimmer von Sonderpädagogik hatten, nichtbehinderte Kinder – all das machte Elke auch irgendwie Angst. Sie beschloss, sich nicht weiter mit dem Thema zu befassen und weiter ihrer Arbeit nachzugehen.

Inklusion? ©Inklusionsfakten

Doch eines Tages war es soweit. Ihre Förderschule sollte geschlossen werden. Viele Eltern und auch die Politik wollten den inklusiven Unterricht voran treiben und ein Menschenrecht umsetzen. Die Kinder mit Behinderungen sollten von nun an chancengleich lernen können. Denn Förderschulen hindern eher die Entwicklung als sie zu fördern. Auch wenn das rational stimmte, Elke fühlte sich verraten. Hatte sie nicht alles gegeben? Was konnte sie dafür, wenn ihre Schüler alle in der Werkstatt für behinderte Menschen landeten? Und wie soll inklusiver Unterricht funktionieren? Sie muss doch in ihrer Förderklasse alles 10 mal widerholen. Das geht doch im inklusiven Unterricht nicht, dachte Elke. Und hatte ihr Verband, der Verband der Sonderpädagogen, ihr nicht jahrzehntelang erklärt, dass der gemeinsame Unterricht falsch sei? Elke war ganz durcheinander. Sie hatte aber kaum Zeit zum Nachdenken, denn noch ehe sie protestieren konnte, wurde sie als lang ersehnte Sonderpädagogin an eine allgemeine Schule verwiesen.

„So ist das eben“ sagte ihr Frank, der in einem Copyshop arbeitete und bei dem sie manchmal Arbeitsblätter für ihre Schüler kopierte, layoutete oder mit Franks Hilfe Grafiken einfügte. „Ich habe auch ursprünglich Drucker gelernt“ sagte Frank. „Früher habe ich an Druckmaschinen gearbeitet. Heute helfe ich dir und anderen Kunden beim Erstellen von Grafiken und Gestalten von Medien. So ist es halt, man muss mit der Zeit gehen.“

Mit der Zeit gehen ©Inklusionsfakten
Am nächsten Tag hatte Elke ihren ersten Schultag an der neuen (nichtbehinderten) Schule. Und dieser Tag veränderte alles. Elke hätte nie gedacht, dass inklusiver Unterricht so fruchtbar sein könnte. Es war anfänglich zwar alles neu und ungewöhnlich, aber nach einiger Zeit konnte sie sich schon nichts anderes mehr vorstellen. Sie arbeitete von nun an im Team. Gemeinsam mit einer Regelschullehrerin gestaltete sie den Unterricht so, dass alle Kinder gefördert wurden. Die hochbegabte Pauline bekam schwierigere Arbeitsblätter und Hennig, ein Junge mit Down-Syndrom, erhielt andere Materialien, die anschauliches Lernen ermöglichten. Davon profitierten auch die anderen Kinder, die Henning unbedingt das Schreiben beibringen wollten, was ihnen letztendlich auch gelang. Elke besuchte auch andere Klassen und zeigte den Lehrern welche Materialien sie Kindern mit Förderbedarf anbieten konnten.

Elke selber merkte es erst gar nicht, aber sie wurde wieder schneller. Noch bevor ein Junge in ihrer Klasse, übrigens ohne Förderbedarf, ein Schimpfwort rufen konnte, hatte sie ihn bereits in ein Gespräch verwickelt. Bevor ein anderes Kind Stühle umschmeißen konnte, hatte sie es bereits auf den Hof gezogen und ein Fangspiel initiiert. Sie sah es nicht nur, sie spürte auch, dass sich die Kinder mit und ohne Behinderung gut entwickelten. Das hätte sie zuvor nie gedacht und sie hätte es auch nie freiwillig ausprobiert. Sie hatte ihre Meinung geändert, weil sie etwas ganz Entscheidendes erfahren hatte: nämlich die Praxis inklusiver Bildung. Und das ist etwas, das hatte Elke begriffen, was sich viele einfach nicht vorstellen können, wenn sie es nicht gesehen und erlebt haben. Hätte Elke den inklusiven Unterricht nicht kennen gelernt, würde sie heute noch Förderschulen rechtfertigen.

 

Noch Fragen? Hier erhalten Sie Antworten auf Fragen und vorurteilhafte Aussagen zum Thema inklusive Bildung: http://inklusionsfakten.de/

Ein Kommentar

  • Wenn jetzt noch flächendeckend an der Personal- und Klassenstruktur gearbeitet wird, dann klappt’s vielleicht auch mit der Inklusion! 😉

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