Die Fläming-Grundschule in Berlin Schöneberg war die erste staatliche Grundschule im deutschsprachigen Raum, die Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtete. Die Fläming-Grundschule war auch meine Schule. In der Schule, im Hort und in der Nachbarschaft gab es Kinder mit Behinderung. Ich kannte von klein auf Kinder, die plötzlich laut schrien, Kinder die sich anders mitteilten als durch Sprache, Kinder, deren Spuckfaden aus dem Mund fast bis zum Boden reichte und Kinder, die ein großes Dreirad fuhren statt eines Fahrrades. Diese Kinder hatten Namen und Eigenheiten wie alle. An manche Kinder meine Schulzeit erinnere ich mich gut, an andere nicht – unabhängig von Behinderung. Eine “Behinderung” war nichts Spektakuläres. Spektakulär war unser Hausmeister, der eigentlich immer meckerte. Spektakulär war, wenn Felix wütend seinen Platz leer fegte, weil ihm das Malen nicht gelang (er war in allem Klassenbester, außer im Kunstunterricht). Spektakulär war Purzel, der Dackel unserer Klassenlehrerin.
Wir wussten, dass es Verhaltensweisen bei Mitschülern gab, die wir vordergründig erst mal nicht verstanden. Wir wussten, dass die Art oder Ausdrucksweise für das Kind (ob mit oder ohne Behinderung) Sinn macht, auch wenn sie uns unverständlich erschien. Nicht immer kamen wir diesem Sinn auf die Spur. Aber wir haben gelernt, dass es okay ist, wenn wir die Bedeutung nicht immer verstehen. Das ermöglichte uns einen ganz anderen Zugang, als ein Kind einfach als behindert, gestört oder verrückt abzustempeln.
Eine Faszination am “Behindertsein” gab es für mich nicht. Wenn ein Kind auf einem Kindergeburtstag auf dem Sofa lag, nicht sprach und sich nicht bewegen konnte, dann war das nichts außergewöhnlich. “Ach, hallo Steffi, komm wir hören Musik“. Das Wort “schwere Mehrfachbehinderung” habe ich erst als Erwachsene kennen gelernt.
Auf der Oberschule (Sophie-Scholl-Schule) ging es genauso weiter: Das Surren des E-Rollis, die Anwesenheit von zwei Lehrern in der Klasse, die Mikroportanlage für einen schwerhörigen Schüler gehörten zum Alltag. Und ich nahm an, dieser Alltag sei auch an anderen Schulen Alltag. Ich habe erst viel später erfahren, dass Gemeinsamer Unterricht nicht zum Alltag vieler Schulen gehört – bis heute nicht.
Ich kann nur für mich sprechen. Ich habe nicht das Gefühl weniger gelernt zu haben als meine Freunde, die keine Kinder mit Behinderung in der Klasse hatten (was ja auch etliche Studien belegen). Ich glaube nicht, dass meine Schulleistungen etwas mit der Anwesenheit von Schülern mit Behinderungen zu tun hatten. Ich glaube eher, dass die Anwesenheit eines zweiten Erwachsenen im Raum dazu geführt hat, dass ich besser lernen konnte. Ich bekam schneller Hilfe und eine Antwort. Der inklusive Unterricht bot Anregung und Abwechslung. Niemand brauchte Angst haben, immer der letzte zu sein. Wir halfen uns gegenseitig, dem einen bei den Hausaufgaben, dem anderen beim Schuhe zu binden und dem nächsten, wenn er hingefallen war.
Ich glaube nicht, dass die Kinder mit Behinderungen überfordert wurden oder dass sie weniger gelernt haben. Im Gegenteil. Ich bin der Meinung, dass Schüler/innen -auch mit kognitiven Einschränkungen- durch das Gemeinsame Spielen und Lernen relativ gut einschätzen können, wo ihre Fähigkeiten, aber auch Grenzen liegen. Ich bin davon überzeugt, dass alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, gut an meinen alten Schulen aufgehoben waren. Der Meinung war ich früher und der Meinung bin ich auch heute – nach meinem Master in Heilpädagogik und einigen Erfahrungen später. Ich habe viele unterschiedliche Kinder kennen lernen dürfen, mit und ohne Behinderungen – auf inklusiven Ferienfreizeiten mit dem Indiwi (ehemaliges Integrationsprojekt), in inklusiven Settings und in nicht inklusiven Betreuungsangeboten. Durch die fast 5-jährige Begleitung eines Mädchens mit Behinderungen habe ich gemerkt, was Förderschulen alles nicht leisten können. Ich habe mitbekommen, dass etwas Entscheidendes fehlt: Das Gefühl dazu zu gehören.
Inklusive Schulen heißen alle Kinder willkommen. Sie erkennen die gesellschaftliche Vielfalt an und unterstützen alle Kinder dabei, sich wohl zu fühlen – auch wenn manche Vielfaltsmerkmale zahlenmäßig in der Minderheit sind. Inklusive Schulen setzen sich gegen Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Islamophobie ebenso ein wie gegen Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung. Inklusive Schulen geben Schutz vor Diskriminierung. Hänseleien wegen einer Behinderung, wegen zwei Mamis, wegen des Vornamens, wegen Schuhen mit Klettverschluss wird aktiv etwas entgegengesetzt. Wir greifen ein, wenn ein Kind (oder Erwachsener) unfair behandelt wird.
Das Klima einer Schule, die Kinder nicht aufgrund eines Merkmals ablehnt, ist wohl das wichtigste. Die Schulzeit ist eine lange Zeit. Zu lange, um die Entwicklung von Selbstsicherheit, Empathie und Gerechtigkeitsempfinden dem Zufall zu überlassen. Durch das Willkommensein an einer inklusiven Schule lernen alle Kinder, dass das ihre Schule ist – egal wie sie heißen, woher sie kommen, wie viel Taschengeld sie haben, ob sie langsam lernen oder schnell, ob ihre Eltern arbeiten oder nicht, ob sie Worte sprechen oder “grrrrr” sagen. Das Gefühl einfach dazuzugehören und das Gefühl von Verlässlichkeit und Angenommensein entsteht, wenn weder ich noch meine Mitschülerinnen und Mitschüler Angst haben müssen, die Schule zu verlassen, weil wir den scheinbaren Ansprüchen der Mehrheit nicht genügen. Dafür brauchen Schulen ein Handwerkszeug. Das A und O ist und bleibt aber die inklusive Haltung. Die Erwachsenen müssen bereit sein Schule so zu entwickeln, dass alle Kinder gleichberechtigt spielen und lernen können. Dafür müssen Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkannt und Einseitigkeiten, Schieflagen und Vorurteile abgebaut werden.
“Die Arbeit mit den behinderten Kindern hat unsere Schule und uns tiefgreifend verändert. Der Kern dieser Veränderung besteht in einer Richtigstellung der Verantwortlichkeit für den pädagogischen Prozess: Aus der Frage: “Wie muss ein Kind sein, damit es an unsere Schule darf?”, wurde die Frage: “Wie müssen wir Schule machen, damit hier jedes Kind sein darf?” (Fred Ziebarth, Sonderpädagoge der Fläming-Grundschule Berlin 2006).
Nicht nur für unseren alten Schulpsychologe und Sonderpädagogen Fred Ziebarth und die Schule hat sich durch den Gemeinsamen Unterricht etwas verändert, auch ich hätte mich sicherlich anders entwickelt, wenn ich 1987 eine andere Schule besucht hätte. Jetzt heisst es den Weg der Inklusion weiter zu gehen, für bessere Ressourcen zu kämpfen und Kinder, auch mit schweren Behinderungen, nicht auf Förderschulen abzuschieben. Denn trennende Schulen vermitteln auch trennende Vorstellungen. Ohne inklusive Schulen werden wir keine inklusive Gesellschaft haben.
3 Kommentare
Liebe Lisa,
Du hast dies sehr schön und schlüssig zusammen gefast. Gefällt mir sehr gut.
Gruß
Max
P.S.:
Viele Eltern und auch wir waren im Arbeitskreis “Neue Erziehung”. Und die Flämingschule war wegen des Integrationsmodells sehr beliebt. Es gab wenig Ablehnung, wie es heute leider beim Thema Inklusion so häufig vorkommt. Das führte wegen der damaligen Einzugsbereich-Regelung dazu, dass auf unsere Wohnung noch weitere vier Mütter mit Kindern beim Einwohnermeldeamt eingetragen waren!
[…] gut an meinen alten Schulen aufgehoben waren“, fasst Lisa Reimann ihre Erfahrungen zusammen und sie unterstreicht: „Ohne inklusive Schulen werden wir auch keine inklusive Gesellschaft […]
Es ist immer wieder gut sich zu bestärken, das es geht und für alle Kinder und die Gesellschaft der richtige Weg ist. Während in Bayern nun im Jahr 2021 stolz unter dem Schlagwort Inklusion Gymnasiallehrer an Sonderschulen eingesetzt werden ??? 🙁