Inklusive Pädagogik in der Praxis umzusetzen ist viel leichter als oft angenommen. Natürlich braucht es -wie bei so vielem- gewisse Zutaten. Die wichtigste Zutat ist und bleibt die eigene Haltung. Gibt es einen vorurteilssensiblen Umgang und werden Schieflagen, Einseitigen und Diskriminierungen erkannt und ihnen entschieden etwas entgegen gesetzt, dann ist schon viel erreicht.
Inklusive Pädagogik braucht vor allem Erwachsene, die bereit sind gesellschaftliche Kategorien und Konstruktionen zu hinterfragen und das Bildungsangebot so auszurichten, dass alle teilhaben können. Das wiederum erfordert auch ein Wissen um inklusive Didaktik und Methodik, wozu es viel Literatur und viele Praxisbeispiele gibt (bspw. Kersten Reich: Inklusive Didaktik: Bausteine für eine inklusive Schule. 2014). Der Unterricht ist so gestaltet, dass er allen Lerntypen gerecht wird und unterschiedliche Sozailformen sich abwechseln. So lernt Hanna, ein Mädchen, was von vielen als „schwerstmehrfachbehindert“ bezeichnet wird, ihre Mitschüler/innen nennen sie „Hanna“), dass sich Sand anders anfühlt als Metall. Hanim überspringt ein paar Arbeitsblätter, die sie langweilen und knobelt an Rechenaufgaben, die sie herausfordern. Und Jakob lernt Eurostücken zu zählen. Alle lernen das in einem Klassenraum. In ihrem Klassenraum. Die zwei Lehrpersonen haben unterschiedliche Erfahrungen und wechseln sich beim Unterrichten ab. Beide fühlen sich für alle Kinder verantwortlich. Auf Ausgrenzung jeder Form wird reagiert und diskriminierende Äußerungen werden nicht kommentarlos hingenommen. Beide Lehrkräfte Wissen wie Ausgrenzung funktioniert und wie man die Identität aller Kinder fördert – nicht nur die der weissen, nichtbehinderten, heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft. Deswegen spielt Familie eine wichtige Rolle. Jedes Kind darf stolz sein auf seine Familie, wo es wohnt und woher es kommt. Die Lehrpersonen achten darauf zu beschreiben anstatt zuzuschreiben. Mehr dazu: Klick.
Inklusive Pädagogik bzw. „Education for all“ ist für eine vielfältige Gesellschaft wichtig, um sowohl alle Vielfaltsmerkmale in den Blick zu nehmen, gemeinsam zu betrachten, zu berücksichtigen und demokratische Werte wie Gleichberechtigung konsequent zu vermitteln. Pädagogik in heterogenen Gruppen ist nicht automatisch inklusive Pädagogik, die sich vor allem aus den Menschenrechten, insbesondere den Kinderrechten, ableiten lässt – zumal sich die Idee der homogenen Lerngruppe ohnehin in der Abteilung Mythen und Märchen einordnen lässt. Menschen sind immer unterschiedlich und bringen in Gruppen unterschiedliche Vielfaltmerkmale wie sozialökonomischer Status, Behinderung, Geschlechte, Interessen, Fertig- und Fähigkeiten, Herkunft usw. mit ein.
Inklusive Pädagogik ist kein starres Konzept, es geht ihr vielmehr darum Inklusion in der pädagogischen Praxis zu verwirklich und das heisst, dass ich Bildung so gestalte, dass alle Kinder gleichberechtigt teilhaben können UND die Unterschiede gesehen und wertgeschätzt werden. Es geht also keinesfalls um Gleichmacherei (siehe auch hier), sondern um gleiche Rechte. Jedes Kind hat das Recht auf inklusive Bildung und die notwendige Unterstützung, die es zur Teilhabe benötigt. Vielfalt wird zum Normalfall und die Pädagogin/der Pädagoge hinterfragt seine Wertvorstellungen und Normalitätskonstruktionen ebenso wie seine Haltung zu den in der Gesellschaft vorkommenden Vielfaltsmerkmalen – und das können unendlich viele sein. Der wichtigste Aspekt ist und bleibt jedoch die Antidiskriminierung. Inklusive Pädagogik ist Antidiskriminierungspädagogik. Der Antidiskriminierungsgedanke ist auch das Kernstück von Menschenrechten.
Auch die Pädagogik der Vielfalt (Annedore Prengel), die die Integrationspädagogik die interkulturelle Pädagogik und die geschlechtssensible Pädagogik vereint hat viele Schnittstellen der inklusiven Pädagogik bzw. beschreibt diese mit. Annedore Pengel verband mit ihrer Arbeit zur Pädagogik der Vielfalt den von Axel Honeth geprägten Begriff „egalitäre Differenz“ (vgl. Prengel, 2006, S.60). Damit ist im demokratischen Sinne ein No-Go von Hierarchisierungen von Verschiedenheit gemeint – ohne dabei die Augen vor der Verschiedenheit zu schließen. In der Praxis heisst das, dass Heterogenität anerkannt wird und die Bedürfnisse so genannter Minderheiten nicht einfach beiseite geschoben werden nach dem Motto: „Wieso sollten wir Veränderungen in Sachen Barrierefreiheit vornehmen, wir haben doch nur ein Kind, das blind ist.“ Damit Gleichberechtigung verwirklicht werden kann, braucht es Maßnahmen, die größtmögliche selbständige und unabhängige Teilhabe ermöglichen. Wie diese Maßnahmen aussehen können veranschaulicht auch der Anti-Bias-Ansatz, der Vorurteile abbauen und die Identität aller Kinder stärken möchte. Er regt zudem an Kinderbücher, Materialien und die Raumgestaltung auf Schieflagen zu untersuchen (Welche Kinder kommen nicht vor oder werden in ihrer Vielfalt nicht wahrgenommen?). Mehr zum Anti-Bias-Ansatz: Klick.
Inklusive Pädagogik funktioniert, z.B. wenn Kinder im Gemeinsamen Unterricht gelernt haben, Ungerechtigkeiten zu erkennen und dagegen vorzugehen. Sie funktioniert jeden Tag, wenn Kinder sich aufgrund eines Merkmals nicht ausgeschlossen fühlen. Sie funktioniert, wenn eine Schulklasse gemeinsam einen Ausflug plant und alle gemeinsam überlegen, wie alle gleichberechtigt teilhaben können, wie Barrieren vermieden und Lösungen gefunden werden.
Durch inklusive Pädagogik lernt kein Schüler/keine Schülerin weniger. Viele Forschungen zeigen, dass “nichtbehinderte” Kinder gleich gut lernen wie Kinder in Klassen ohne Gemeinsamen Unterricht. Einige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sie sogar bessere Leistungen erzielen als in Klassen ohne Gemeinsamen Unterricht. Auch Kinder mit so genannter Hochbegabung werden in inklusiven Settings ebensogut gefördert wie in Klassen ohne Gemeinsamen Unterricht, mit dem Unterschied, dass sie im Gemeinsamen Unterricht zusätzlich in sozialen Kompetenzen gefördert werden (siehe: Bless/Klaghofer 1991; Feyerer 1998 bzw. hier).
Die Ergebnisse von DESI kommen zu dem Schluss, dass die Leistungsheterogenität in einer Klasse für die Leistungsentwicklung nicht relevant ist (vgl. DESI 2006, S. 52). Die Studien zum inklusiven Unterricht zeigen, dass Kinder mit Förderbedarf im inklusiven Unterricht mehr lernen und besser abschneiden als vergleichbare Schüler/innen an Förderschulen. Gerade Kinder mit so genannter schwerer Mehrfachbehinderung profitieren vom Gemeinsamen Unterricht und den vielen Anregungen der nichtbehinderten Mitschüler/innen (siehe hier).
Inklusive Pädagogik funktioniert, denn die Schüler/innen lernen Rücksichtnahme, Empathie und die unterschiedlichen Bedürfnisse der anderen kennen. Inklusive Pädagogik funktioniert, denn David hätte an der Förderschule keinen Schulabschluss machen können. Sandra hätte nie gelernt, dass ihre Freundin mit den Händen redet und genauso eine Pferdeliebhaberin ist wie sie selbst. Die Klasse 6b hätte nie die Erfahrung gemacht, wie man mit Karim kommuniziert, wie sehr er auf Berührung und Musik reagiert und wie wichtig Karim für die Klassengemeinschaft ist. Durch Karim ist die Klasse ruhiger, wenn er stöhnt, weil es ihm zu laut ist. Durch Karim haben einige Kinder schnell lesen gelernt, weil sie ihm unbedingt was vorlesen wollten. Karim ist wacher und aufmerksamer seitdem er den Gemeinsamen Unterricht besucht. Weitere Beispiele, dass und wie inklusive Pädagogik funktioniert zeigen folgende Videos: „Ich kann mir das gar nicht vorstellen…wie geht denn inklusiver Unterricht?“
Und letztendlich ist es eine simple Formel: ohne inklusive Bildung – keine inklusive Gesellschaft. Die Menschen, die gegen Inklusion sind, haben sie meistens noch selbst nicht wirklich erlebt. Das zeigt auch die Vorurteilsforschung, die davon ausgeht, dass sich Vorurteile am ehesten durch einen längeren Kontakt mit unterschiedlichen Menschen abbauen lassen. Dabei spielt das Klima und gemeinsame Ziele eine wichtige Rolle (Kontakthypothese). Im inklusiven Unterricht kommen diese Aspekte zum Abbau bzw. Vermeidung von Vorurteilen zusammen.
Inklusive Pädagogik braucht, wie alle pädagogischen Konzepte und Ideen, bestimmte Rahmenbedingungen. Leider werden diese oft nicht ausreichend von der Politik zur Verfügung gestellt. Dafür kann aber die inklusive Pädagogik nichts. Hier muss noch viel getan und gekämpft werden. Vor allem braucht es die entsprechende Haltung und das Fachwissen von Pädagoginnen/Pädagogen. Dann lässt sich die Idee inklusiver Pädagogik gut umsetzen. Wenn man sich für inklusive Pädagogik interessiert, kann man vielleicht an einer inklusiven Schule hospitieren oder sich Filme wie “Berg Fidel” oder “Klassenleben” anschauen. So wie Kinder in der inklusiven Pädagogik voneinander lernen, können auch Erwachsene durch Offenheit, Neugierde und Begegnungen die Bedürfnisse, Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Menschen, die anders sind als sie selbst, kennen lernen. Dafür braucht es keine lange Reise, sondern einen offenen Blick in die Nachbarschaft.
Literatur:
Feyerer, E. (1998): Behindern Behinderte? Integrativer Unterricht in der Sekundarstufe I. Innsbruck/Wien.
Kultusminister der Länder, Hrsg. (2006): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch Zentrale Befunde der Studie Deutsch Englisch Schülerleistungen International (DESI). Eine Studie im Auftrag der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main.
Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrattiver Pädagogik, 3. Aufl., Wiesbaden: 2016.
Ein Kommentar
Danke für deinen Gegenbeitrag. Wie du selber so schön schreibst:
“Inklusive Pädagogik braucht, wie alle pädagogischen Konzepte und Ideen, bestimmte Rahmenbedingungen. Leider werden diese oft nicht ausreichend von der Politik zur Verfügung gestellt.”
Nichts anderes hab ich gesagt oder gemeint, wenn auch zugegebenermaßen teilweise schlecht formuliert. Wie auch immer, dort muss man ansetzen.
Lg