Wenn Kinder den Rahmen sprengen, stimmt der Rahmen nicht – autistische Kinder in der Schule

Je schwerer ein autistisches Kind es hat die Menschen, um sich herum zu verstehen, desto dringender braucht es Schule als Ort, an dem es Gemeinschaft, Rückzug, Unterstützung und Zugehörigkeit gleichermaßen erleben kann.

Bin ich überfordert und weiß nicht wohin mit meinem Stress, ist jemand da der mich zur Not abhält, aus Überlastung und Überforderung anderen weh zu tun. Gleichzeitig hilft mir dieser jemand mich selbst zu beruhigen. Dieser jemand ist mir vertraut und dieser jemand mag mich und hat keine Angst vor mir. Dieser jemand ist in der Schule immer für mich da, nicht nur stundenweise. Ist mir alles zu laut, und zu viel, kann ich mich an einem ruhigen und warmen Ort zurückziehen. Spüre ich noch nicht selber, dass es mir zuviel wird, hilft er*sie mir, das zu erkennen und gibt mir Tipps. Auch wenn ich in meiner Überforderung Sachen zerstöre und anderen weh tue, bin ich nicht der Störenfried oder das böse Kind sondern bleibe verstanden und gesehen in meiner Not. Ich lerne, rechtzeitig auszusteigen aus der Überlastungsschleife und übe, wie ich mir dabei selbst helfen kann. Weder ich noch meine Eltern werden für mein autismustypisches Verhalten bestraft. Meine Schule macht mir deutlich: du gehörst zu uns, auch wenn du sauer auf uns bist und wir sauer auf dich sind – du bist und bleibst Mitglied dieser Schule.“

So sollte es sein. Doch für viele Kinder im Bereich des Autismus Spektrum, ist es anders. Sie werden von Schule zur Schule geschickt und selbst autismuserfahrene Förderschulen versuchen nicht selten diese Kinder, die aus dem Rahmen fallen, durch Schulzeitverkürzungen, Suspendierungen (sogar polizeilichen Anzeigen gegen ein Kind im Grundschulalter) oder kompletten Schulausschluss los zu werden. Der Mangel an fördernden Rahmenbedingungen, autismusspezifisch geschultem Personal und einer Grundhaltung der Zuständigkeit auch für diese Kinder wird auf das autistische Kind projeziert, dass dann eben nicht in den oft zu engen Rahmen gepresst werden kann und als defizitär oder gar unbeschulbar stigmatisiert wird. Dass diese Kinder nur von 8 bis 10:00 Uhr die Schule besuchen und dann abgeholt werden müssen, ist in vielen Familien Alltag, auch wenn die Schulverwaltungen offiziell oft gar keine Zahlen darüber haben. Vordergründig wird gesagt, das Kind sei überfordert. Überfordert ist oft die Situation in der Schule, es fehlt schlicht an Ressourcen.

Kommt es dann zu Eskalationen, werden die Kinder mit Ordnungsmaßnahmen überhäuft, deren hilfreicher Effekt schon bei nichtautistischen Kindern fraglich ist. Bei Kindern im Autismus Spektrum sind solche Sanktionen weder verhaltenssteuerend noch “erziehend”. Tatsächlich werden die Kinder bestraft für behinderungsspezifische Symptome, deren Mimimierung nur durh ein tragbares Fundament möglich ist, basierend auf Vertrauen, Kontinuität und eines verstehenden, verlässlichen, zugewandten Beziehungsangebots. Das Gefühl nicht gewollt zu sein und keinen Platz in der Schule und der Welt zu haben, drückt sich bei nicht wenigen Kindern mit Störungsbewusstsein in verzweifelter Wut und Aggression aus. In dieser werden sie jedoch viel zu oft nicht in ihrer Not gesehen und abgeholt, sondern noch stärker exkludiert und im Stich gelassen.

Wird das Kind nicht verstanden, von einem wohlwollende Erwachsenen in seiner*ihrer Aggression als Ausdruck seiner*ihrer Ohnmacht erkannt und hilfreich interveniert, dreht sich die typische Eskalationsschleife weiter. Es folgen Depressionen, Autoaggressionen, teilweise bis hin zu Suizidalität. Hier unterscheiden sich die neurologisch angelegten Stressreaktionen autistischer Kinder nicht von denen anderer Menschen in massiv überlastenden Krisen.

Tragischerweise wird die Aggression der Kinder, die noch etwas von der Welt erhoffen und in Kontakt treten wollen, weit problematischer bewertet als die Autoaggression und der depressive Rückzug. Die aggressiven Kinder sind noch in der Reibung mit der Welt, sie wollen Beziehung, Kontakt, Konfliktlösung – die schwer depressiven, autoaggressiven Kinder sind bereits beim Resignieren.
Oft kann ein Elternteil gar nicht arbeiten gehen, weil es immer wieder das Kind von der Schule abholen muss, die sich all zu oft nicht für die Stressregulation und Konfliktklärung geschweige denn für die Anpassung des eigenen fachlichen Handelns an die Bedarfe der Kinder zuständig fühlt. Viele Kinder werden auch gar nicht mehr beschult und bekommen einmal in der Woche Hausunterricht (wenn es dafür Personal gibt). Spezielle Projekte der Jugendhilfe sind überlaufen und gar nicht auf Kinder mit Schwierigkeiten im Umgang mit anderen und mit der eigenen Impulskontrolle eingestellt. Oder sie berücksichtigen die Besonderheiten von autistischen Kindern, die z.T. deutlich abweichende Perspektiven benötigen, nicht und können deshalb wenig hilfreich oder sogar kontraproduktiv sein.

Hier mal ein*e Schulhelfer*in mit keiner großen Qualifikation und dort mal ein*e Sonderpädagog*in, das reicht an inklusiven Schulen nicht. Egal ob Autismus Spektrum oder andere Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Bereich, es braucht professionelle Betreuungspersonen, die kontinuierlich an der Seite des Kindes sind und unterstützen, lange bevor es zur Überlastung kommt. Sowohl für das Kind selber als auch für die anderen gibt es eine Fürsorgepflicht.

Es braucht manchmal zeitweise oder dauerhaft eine kontinuierliche und hochprofessionelle Betreuungspersonen, die nicht irgendwo mit im Raum ist, sondern die immer hinter dem Kind steht und eingreift, bevor der Feuerlöscher auf dem Boden landet, der Stuhl durch die Klasse fliegt, ein Kind geschlagen oder gewürgt wird, die Stopp ruft, zur Not die Hand festhält, sollte der frisch angespitzte Bleistifte auf die Hand eines anderen Menschen zielen. Eine Betreuungspersonen, die das Kind mag, die sich auskennt, und weiß, jetzt ist es gleich soweit, jetzt könnte das Kind gleich die Kontrolle verlieren und dann rechtzeitig mit dem Kind den Raum/die Situation verlässt, Regulationsmöglichkeiten anbietet und das Kind in eigener Stabilität durch seine emotionalen Sturmwellen begleitet und in den sicheren Hafen zurück bringt. Denn nichts anderes tun die Eltern tagtäglich. Sie begleiten ihre Kinder, kennen sie, lieben sie, bemerken erste Stressanzeichen sofort, schützen Geschwister und haben kein Psychologiestudium hinter sich. Sie sind einfach da, permanent.

Anstatt die Kinder und ihr behinderubgsbedingtes Verhalten zu bestrafen und verantwortlich zu machen, oder ihre Familie , sollte man darüber reden, um was es geht:

  • um einen massiven Personalmangel
  • um eine Unterversorgung unseres Schulsystems
  • um den Irrglaube, man könne Inklusion einfach so neben her laufen lassen ohne etwas zu verändern
  • um fehlende Konzepte unter Einbeziehung von Menschen mit Autismus als Expert*innen in eigener Sache
  • um das Nebeneinanderherlaufen der unterschiedlichen schulischen und außerschulischen Maßnahmen (statt miteinander, verzahnt und abgestimmt).

Es braucht viel mehr Vielfalt an Professionen, Disziplinen und Fortbildungen als reguläre (Sonderschul-)Lehrkräfte und Erzieher*innen an dem Ort Schule. Und es braucht Menschen, die ihre Zuständigkeit auch für diese Kinder anerkennen und sich auf sie einstellen wollen. Menschen, die verstehen und Kinder lehren wollen und nicht nur ihren Plan umsetzen, bei dem nur das Kind mitkommt, das es eben schafft.

Dass die Eltern dieser Kinder das ganze Schulsystem mittragen, auszugleichen versuchen, kompensieren und regulieren wo es nur geht, wird politisch weder gesehen noch anerkannt. Bei zwei Unterrichtsstunden am Tag, sind es die Eltern, die das Mittagessen kochen, selber nicht arbeiten gehen können, finanziell prekär leben, keine Entlastung erfahren, immer auf Halbacht sind, selber Unterricht anbieten, weil der Hausunterricht (wenn überhaupt) nur einmal in der Woche erfolgt, sich mit dem Kind sportlich betätigen usw. Entlohnt werden sie dafür nicht. Oft steht nach einigen Jahren mit vielen Auf und Abs und Konflikten dann doch der komplette „Rausschmiss“ aus der Schule an oder man räumt zähneknirschend freiwillig das Feld, weil man einfach nicht mehr kann. Und all das leider oft mit einer ordentlichen Portion Abwertung der Eltern.

Die umliegenden Regelschulen wollen dieses Kind nicht, die Förderschulen wollen das Kind auch nicht. Die Psychiatrien wollen das Kind auch nicht, allerhöchstens ein paar Wochen und ob es den Kindern wirklich hilft, wenn alle stabiliserenden Bezugspersonen und Rahmenbedingungen plötzlich nicht mehr vorhanden sind, bleibt zusätzlich fraglich. Nur was liebe Politik, was kommt dann?

Niemand will dieses Kind. Und alle können sich ihrem Bildungsauftrag als Institution Schule mit der Begründung Personal- und Ressourcenmangel entziehen. Nur sie können sich nicht entziehen, die Eltern. Ob sie noch Ressourcen haben, fragt niemand.

Nur so eine Idee: aber vielleicht würden alle Schulen. Juhuu und komm zu mir schreien, wenn mit dem Kind, ein spezialisierte Psychologen, Psychologe oder Ähnliches(volle Stelle), Huckepack mit an die Schule kommt der nicht nur für das Kind, sondern für das gesamte Team und Lehrerkollegium da ist, sowohl in schule als auch im Hort und fachlich berät, fortbildet, unterstützt vernetzt. Wer weiß, wie viele Kinder endlich die Chance bekämen, sich mit all ihren Ressourcen, überwältigend schlauen und besonderen Perspektiven bereichernd in unsere Welt einzubringen. Ob die Wut dann noch viel Futter hätte…?

 
Weiterer Artikel auf Inklusionsfakten, wie inklusive Bildung für Menschen im Autismus Spektrum gelingen kann, klicke hier.

3 Kommentare

  • Vielen Dank für die gute Zusammenfassung aller Aspekte. Es zeigt die Defizite auf ohne beleidigend zu werden und es zeigt die Sackgasse der Eltern. Aber vor allem die Hilflosigkeit eines Kindes. Vieler Kinder. Ich habe in meinem Umfeld einige Familien in genau dieser Situation erlebt. Es ist unfassbar. Wahlweise kann es in Teilen auch auf Familien mit Adhs Kindern übertragen werden.
    Es muß sichtbar werden und die Familien dürfen wissen, dass sie kein Einzelfall sind. Daher danke für das sichtbar machen!
    Melanie

  • Danke für Ihren Artikel. Mein Sohn hat dieses Problem. Nicht nur die Schule hilft nicht. Es erlaubt diesen Kindern nicht, Fortschritte zu machen. Mein Sohn will studieren. Er arbeitete hart und bekam gute Noten, um aufs Gymnasium zu gehen. Aber der Schulpsychologe lachte und sagte: Auch wenn er gute Noten hat. Wir schreiben in dem Brief, dass er Probleme hat und nicht selbstständig ist und seine Kleidung und Sachen nicht ordnen kann. Er kann nicht zur Universität gehen. Sie behandeln diese Kinder wie Kriminelle und es ist eine Schande, dass diese Dame die Schulpsychoanalytikerin ist und die Kinder demütigt, anstatt ihnen zu helfen. Sie unterdrücken diese Kinder und ihre Talente und es ist eine Schande.

  • Ohne die Sternchen wäre der sonst sehr gute Text noch besser lesbar.
    Es gibt sehr viele Gründe gegen das Gendern, unter anderem der Distinktionszwang und eben der exkludierende Charakter.
    Außerdem führt es zu Logikfehlern und sprachlichen Ungenauigkeiten; gerade Autisten verwirrt so etwas:

    »Wird das Kind nicht verstanden, von einem wohlwollende Erwachsenen in seiner*ihrer Aggression als Ausdruck seiner*ihrer Ohnmacht erkannt und hilfreich interveniert, dreht sich die typische Eskalationsschleife weiter.«

    Das ist doch grauslich. Das Kind – es – seine Ohnmacht. Neutrum.
    Aber im selben Satz: Der Erwachsene. Inkonsequent.
    Ich störe mich daran, statt den Inhalt aufzunehmen.

    Lasst es doch einfach und macht weiter gute Arbeit im Sinne der Kinder und ihrer Angehörigen! Noch mal: Der Artikel ist wichtig und sollte – grammatisch gereinigt – Pflichtlektüre für alle mit autistischen Kindern arbeitenden Menschen sein.

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