Drei Tage und das Buch „Henri: Ein kleiner Junge verändert die Welt“ war ausgelesen. Mein Fazit: Ein tolles Buch, dass auch für bildungspolitische Entscheidungsträger sinnvoll wäre. Denn es zeigt eine Sicht auf Familien mit einem behinderten Kind, die vielen unbekannt ist. Eine sehr private und gefühlvolle Sicht, die uns die Wirkung von gesellschaftlichen Vorurteilen und Ausgrenzung nahebringt. Gleichzeitig erlebt der Leser/die Leserin die gewöhnlichen Höhen und Tiefen eines vierköpfigen Familienleben. Aber auch für jede/n andere/n, der/die bisher vielleicht wenig mit dem Thema Behinderung in unserer Gesellschaft zu tun hatte, bietet das Buch neue Perspektiven.
Das Buch verdeutlicht das Menschenrecht auf den Zugang zur inklusiven Bildung an allen allgemeinen Schulen – und zwar ganz lebensnah. In der UN-Behindertenrechtskonvention steht: „Inclusive education system at all levels“ – All Levels heisst: Gymnasium inklusive. Und genau das ist der große menschenrechtliche Haken in unserer Gesellschaft. Und in der Geschichte von Henri. Noch immer gibt es Bereiche, die Inklusion weit von sich schieben. In Henris Situation wollte das Gymnasium nur Kinder mit Behinderungen aufnehmen, die auch in der Lage seien Abitur zu schaffen. Dass Henri, ein Junge mit Down-Syndrom, wohl kein Abitur schaffen wird (übrigens vielleicht auch keinen Realschulabschluss), aber es dennoch richtig und wichtig ist, in der Klasse zu bleiben, wird durch das Buch deutlich. Natürlich gelten hier Sachargumente, die Menschenrechtsperspektive, die vielen Vorteile die gemeinsames Lernen für alle Kinder -auch am Gymnasium- hat, doch es geht auch um das emotionale Nachvollziehen von dem, was wir unseren Kindern viel zu oft antun: Die Trennung von Klassengemeinschaften aufgrund von Behinderung und Noten.
Welche Botschaft wird Kindern wie Henri vermittelt? „Deine Behinderung ist das Problem, nicht unser Schulsystem, nicht wir“. Welche Botschaft wird Henris Klassenkammeraden gesendet? „Genügst du den Ansprüchen nicht, musst du die Gemeinschaft verlassen – so wie Henri“. Diese Einstellung ist fatal für unsere Gesellschaft und für die Entwicklung von Inklusion. Noch viel zu viele Kinder erleben Bindungsabbrüche, verlieren Freunde und das soziale Umfeld, weil sie den scheinbaren Ansprüchen der Leistungsgesellschaft nicht genügen. Henri ist eines von diesen Kindern. Fast die gesamte Klasse wechselte von der Grundschule auf das Gymnasium.
Wir könnten, ausgelöst durch Henris Situation, viele Debatten führen: Für wen ist das Gymnasium sinnvoll? Ist es überhaupt sinnvoll, die Kinder nach vier gemeinsamen Schuljahren zu trennen als seien sie geistig genormt? Ist das Gymnasium, so wie Schulforscher Schuck es darstellt, ein Relikt, „eine überholte, im klassischen Denken verwurzelte Vorstellung”? Gehören nur Kinder, die die erforderte Leistung bringen, aufs Gymnasium? Geht Inklusion am Gymnasium überhaupt (hier geht’s zu den Best-Practice-Beispielen)? Ebenso könnte man über das Elternwahlrecht diskutieren, da gibt es von Bundesland zu Bundesland große Unterschiede (in einigen Bundesländern können Eltern anders -als es die Empfehlung der Grundschule nahelegt- entscheiden). All diese Fragen wurden durch die Debatte um Henri und seine schulische Zukunft wieder einmal aufgeworfen und in den Medien bis zum Erschöpfen von Widersachern und Befürwortern der Inklusion diskutiert. Und genau davon handelt dieses Buch nicht. Es geht um eine viel entscheidendere Ebene: um Empathie.
Wer in diesem Buch Henri, seine Familie und seine Klassenkammeraden erlebt, wer mitbekommt wie selbstverständlich das Gemeinsame Spielen und Lernen für die Kinder ist, wer Henris Situation kennt, der wird sich am Ende des Buches zurecht fragen, warum Henri nicht mit dem Großteil seiner Klasse auf das Gymnasium bei sich im Ort wechseln darf. Der zieldifferente Unterricht, der allen Kindern individuelles Lernen ermöglicht, ist für alle Kinder von Vorteil und an einigen Gymnasien längst Alltag. Der Hochbegabte profitiert ebenso von extra kniffligen Arbeitsblättern und Aufgaben wie ein Kind wie Henri, der zeitweise größere Schrift und weniger Text in der Aufgabenstellung benötigt. Studien zeigen, dass diese Form von Unterricht besonders erfolgreich ist – für alle. Doch nicht nur die Frage der Leistung erscheint relevant, vor allem geht es doch um ein Miteinander, um Inklusion. Das Buch verdeutlicht, wie viele Menschen ein solches Miteinander ablehnen, es noch nicht einmal probieren wollen.
Wie weit ist unsere Gesellschaft zieldifferente Inklusion auch am Gymnasium zuzulassen? Die Gesellschaft rund um Herni scheint hier zumindest teilweise noch akuten Förderbedarf zu haben. Für die UNO ist die Situation klar: Inklusion gilt für alle Schulformen. In Deutschland prägen nach wie vor Vorurteile die Inklusionsdebatte. Viele glauben Kinder mit Behinderungen würden besser an Förderschulen lernen. Doch das Gegenteil ist der Fall (siehe hier). Studien zeigen, dass sich die Bildungs- und Teilhabechancen der Kinder mit Behinderungen durch Inklusion verbessern. Studien zeigen, dass kein Kind durch die Anwesenheit eines Schülers mit so genannter „geistiger Behinderung“ schlechter lernt (siehe hier). Studien zeigen, dass sich die Lernleistungen verbessern. Doch all die Studien nutzen nichts, wenn inklusionsskeptische Menschen, die Menschen wie Henri nie begegnet sind, von vornherein Inklusion ablehnen.
Das Beispiel Gymnasium Walldorf ist geradezu ein Paradebeispiel für die Vorurteilsforschung. Rational dürfte das Kollegium, das sich gegen Henris Aufnahme ausgesprochen hat, keine Probleme haben die Studienergebnisse zu verstehen (siehe hier Forschungsergebnisse_GU). Doch auf der empathischen Ebene, auf der Haltungsebene, fehlt es vielen an Differenzerfahrungen, an einen von klein auf gewohnten und selbstverständlichen Umgang mit Vielfalt. Gerade wenn wenig Wissen, wenig Kontakt und Empathie zu Inklusion und Behinderung besteht, ist die Abneigung gegenüber Inklusion groß. Die Vorurteilsforschung, allen voran Prof. Cloerkes, hat gezeigt, dass sich Vorurteile nicht durch Rationalität (also das Aufzählen von Studien) abbauen lassen, sondern durch das soziale Miteinander. Wichtig sind dabei 3 Dinge: Kontinuierlicher Kontakt mit Menschen, die anders sind als ich, positiver Kontakt bzw. schöne Atmosphäre und gemeinsame Ziele. Das alles war in Henris Klasse vorhanden. Das alles war/ist (?) beim Gymnasiallehrerkollegium wohl eher nicht vorhanden. Da hat auch das Komplettpaket eines Sonderpädagogen, extra für Henris zukünftige Klasse am Gymnasium versprochen, nichts genutzt.
Wer nach einem sentimentalen behinderten-Kindern-wird-über-den-Kopf-gestreichelt in diesem Buch sucht und Behinderung als Faszination erleben möchte, der sollte doch besser nach Literatur aus den 70er und 80er Jahren suchen. Dieses Buch wirkt empowernd und erinnert immer wieder daran wie wichtig es ist, sich seiner Rechte bewusst zu sein und auch für sie zu kämpfen. „Adressieren und Veröffentlichen“ heißt das Prinzip, wenn Gespräche nicht mehr fruchten und man mit der Unrechtserfahrung alleine dazustehen droht. Der Leser/die Leserin erfährt, was es für eine Familie bedeutet, wenn sich plötzlichen Türen schließen, die für nichtbehinderte Kinder offen stehen. Das Buch korrigiert zudem auch die vielen Fehlannahmen über Henri und seine Eltern und legt den Nachhilfebedarf in Sachen Inklusion bei den Behörden offen.
In Henris Situation hat aber nicht nur die Politik versagt, auch die Medien und die Gesellschaft, für die die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen immernoch nicht selbstverständlich ist. Henris Geschichte wurde zur Grundsatzdiskussion. Die Systemfragestunde war eröffnet. Dadurch wurden zwei Aspekte gleichermaßen verdeutlicht: Zum einen wurde klar, wie wenig Bewusstsein über das Menschenrecht auf inklusive Bildung bekannt ist und zum anderen, wie viel Solidaität und Fürsprache es für die Inklusion Henris, auch über Baden-Württembergs Grenzen hinaus, vorhanden ist.
Ein Eindruck bliebt am Ende des Buches haften: Der Eindruck, als hätten bestimmte Menschen Angst ihnen würde etwas weggenommen, wenn Kinder wie Henri (oder anderen Diskriminierungsmerkmalen) das Gymnasium besuchen. Ja, der Abbau von Privilegien tut manchen Menschen weh. Doch wollen wir Gleichberechtigung, dann müssen Menschen mit wenig Diskriminierungserfahrung umdenken. Ihnen wird nichts weggenommen. Im Gegenteil: Der Privilegienteller wird gerechter und das bedeutet für die Praxis, dass der Umgang mit Diversität, die wir auch in der Gesellschaft haben, zur Selbstverständlichkeit wird. Und das ist eine Bereicherung.
Dass in Baden-Württemberg vor kurzem noch der Sonderschulzwang galt ist eindeutig konventionswidrig und zeigt wie viel Arbeit noch vor uns liegt. Das Buch macht nachdenklich und verdeutlicht gleichzeitig etwas ganz wesentliches:
Nicht mit Henri oder seiner Familie stimmt etwas nicht, sondern mit unserer Gesellschaft.
Weiterführende Links:
Kostenlose Auskunft für Inklusion- und Henri-Berichterstatter: Der Beitrag bietet Informationen zum Thema “Inklusion am Gymnasium” und richtet sich vor allem an Journalistinnen/Journalisten. Die wichtigsten Fakten und Best-Practice-Beispiele werden ebenso genannt wie die Menschenrechtsperspektive.
Gegenargumente zur Aussage: „Inklusion ist schön, aber bitte nicht auf Gymnasien“.
Ein Kommentar
Sehr gut! Grundsätzlich geht es doch um die Fragen: Wo fängt Behinderung an und hört sie auf? Ist vielleicht jeder mal in seinem Leben alters-/ krankheitsbedingt oder durch sozialen Background behindert? Oder gibt es auch emotionale Behinderung durch Empathielosigkeit/ Ignoranz und wie kann man diesen Menschen helfen? Wer maßt sich an, wo wer mitmachen darf und wer wo nicht? Zu welchem Zweck gibt es “monokulturelle” Elite-Einrichtungen? Alles führt zu Widersprüchen, außer eins: Alle haben eine Existenzberechtigung und dürfen überall dabei sein und die Verantwortung der Bedingungstoleranten bzw. durch zufällige Faktoren Begünstigte ist es, die Bedingungen zu schaffen und zu verbessern, damit weniger Bedingungstolerante (durch was auch immer Behinderte), dazugehören – so wie es im Kleinen, in den Familien schon gehandhabt wird. Hier gibt es keinen “Notausgang” Aussonderung in eine “Sonderfamilie”/ “Förderfamilie”. Oder so, wie die Rollstuhlrampe universell benutzbar ist, so sollte auf allen Ebenen Zugang universell sein und immer wieder nach Möglichkeiten gesucht werden, nicht nach Argumenten, warum etwas nicht geht.